Ritualmord
üble Tage im Dienst. Alles okay bei dir?«
Im Gefängnis hatte sein Zellengenosse ihm Bleichmittel in die Augen geschüttet. Das linke hatte sich wieder erholt, aber im rechten entwickelte sich ein sekundäres Glaukom; Der Augapfel war geschwollen und die Pupille zur Seite gedreht. Es war immer dieses Auge, das er rieb, wenn er nervös war. Sie wartete,
während er weiter den Knöchel hineinbohrte. Schließlich verschränkte sie fröstelnd die Arme und sah sich in dem verlassenen Hausflur um. »Tig? Lässt du mich rein?«
Er zögerte und schaute hinter sich in seine Wohnung. In der Diele stapelten sich haufenweise seine Habseligkeiten, und sie wusste, dass ihn das verlegen machte. Vor fünfzehn Jahren hatte man Tig wegen versuchten Mordes an einer achtzigjährigen Frau, in deren Haus er eingebrochen war, verurteilt. Damals hing er an der Nadel, aber – ein seltener Fall – im Knast war er clean geworden und hatte eine eigene Hilfseinrichtung gegründet. Er bot Leuten von der Straße, die ebenfalls clean werden wollten, Rat und Unterkunft an. Durch seine Arbeit konnte er Kontakte zu ethnischen und Flüchtlingsgruppen in der Umgebung knüpfen, und eine Zeit lang hatte sich sogar die Operation Atrium für ihn interessiert. Atrium war eine vom Geheimdienst geleitete Verbrechensbekämpfungsorganisation, die sich mit dem Drogenhandel zwischen jamaikanischen Gangs befasste. Obwohl Tig weiß war, hatten sie seine Connections durchleuchtet und daraufhin beschlossen, ihn als Informanten zu benutzen. Dieses Interesse war von kurzer Dauer. Sie hatten sich zurückgezogen, als ihnen Tommy Baines klarmachte, dass er eines nicht war, nämlich ein Spitzel. Sie wären völlig durchgedreht, wenn sie erfahren hätten, dass eine seiner besten Freundinnen als Sergeant bei einer Unterstützungseinheit arbeitete.
Sie hatte ihn durch das Tauchen kennengelernt. Irgendwie hatte er genug Geld zusammengekratzt, um vier seiner Klienten einen Grundkurs beim Tauchsportverband absolvieren zu lassen, während sie gerade ihre Prüfung zur Tauchmeisterin ablegte. Sie hatten gezwungenermaßen zwei Tage miteinander verbracht und sich auf Anhieb verstanden. Aber nicht das Tauchen hielt sie zusammen, sondern etwas anderes, weniger leicht zu fassendes: vielleicht das Gefühl, beschädigt worden zu sein, und – noch wichtiger – das Gefühl, ihre Schuld
durch verantwortungsbewusstes Handeln zu begleichen. Fleas Verantwortung galt ihrer Arbeit und Thom, und bei Tig war es die Arbeit und seine Mum.
Seine Mum war ein bisschen gaga – nichts Offizielles, aber Tigs Haftstrafe war für sie der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nach seiner Entlassung vor einem Jahr war er geradewegs zu ihr gezogen, um sie zu versorgen, und seitdem plagte er sich mit dem Plunder, den sie anhäufte. Alle wussten, dass es ihn nach und nach wahnsinnig machte.
»Ich dachte, ich komme raus und treffe mich mit dir«, sagte er jetzt.
»Ich habe versucht, dich anzurufen – und selbst wenn es in diesem Teil der Welt etwas gäbe, wohin man gehen könnte, habe ich kein Geld, und außerdem hast du gesagt, du willst reden.« Ihre Nase lief, und sie wischte sie ungeduldig ab. »Hör zu, Tig, mir ist kalt. Deine Mum macht mir nichts aus, wenn es das ist.«
Er musterte sie, und sie wusste, was er sah. Sie befand sich in einem grässlichen Zustand. Er klemmte das Gesicht in den Türspalt und schaute sie an. Sein rechtes Auge folgte dem linken nur mühsam. »Du zitterst«, stellte er fest. »Was ist los mit dir?«
»Mir ist kalt. Hey, ich bin gekommen, um mit dir zu reden. Du hast mich darum gebeten. Schon vergessen?«
Er zeigte auf ihre Füße. »Du bleibst hier. Genau hier. Ich komme zurück, wenn ich weiß, dass wir uns sehen lassen können.«
Er verschwand in dem trüb erleuchteten Korridor mit den abblätternden Tapeten und der fleckigen Farbe und ließ sie vor der Tür stehen. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, zog ihre Jacke enger um sich und wartete. Ein kalter, abgestandener Luftzug kam aus dem Korridor, und sie hörte die Geräusche eines schlecht eingestellten Radioscanners aus einem der Zimmer. Das musste Tigs Mum sein. Seit Flea sich erinnern
konnte, war seine Mutter süchtig nach dem Polizeifunk. Sie sagte immer, sie werde ihnen zuvorkommen, falls sie vorhätten, hier anzurücken und sie abzuholen – denn so war es jetzt für sie: imaginäre Armeen und Männer aus der Anstalt, die auf der Straße heranmarschierten. Jetzt, da der
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