Ritualmord
Spiegelbild, weil es ihm eines sagte: Das Leben, das wirkliche Leben, hatte ihn niemals berührt.
Er legte den Finger auf sein Gesicht auf dem Foto und sah ganz deutlich, was ihn all die Jahre hindurch von den anderen unterschieden hatte. Schon damals, mit zwanzig, hatte in seinen Augen diese eingleisige Entschlossenheit gelegen, der gleiche Zorn wie heute. Es waren noch nicht die Augen eines Killers – das sollte erst noch kommen –, aber die eines Mannes, der nur an Rache und Gewalt denken konnte. Rebecca, seine Exfreundin, hatte ihm einmal ein Buch zu Weihnachten geschenkt. Es war eine Sammlung von Aphorismen, und sie hatte einen davon für ihn markiert. Er wusste nicht mehr, von wem er stammte, aber er hatte ihn nie vergessen, obwohl er das Buch längst nicht mehr besaß: »Kleine, bösartige Geister sind erfüllt von Rachsucht und Zorn, und sie sind unfähig, die Freude zu empfinden, die es ihnen brächte, ihren Feinden zu verzeihen.«
»Klein und bösartig«, murmelte er jetzt, als er das Foto be
trachtete. Klein und bösartig, weil er den Begriff des Verzeihens nicht verstand, weil es immer noch ein Wort war, das ihm nichts sagte. Er ging zum Fenster, legte die Hand an die Scheibe und starrte hinaus, dachte an das, was aus ihm geworden war. Das Cottage stand in einem Karstgelände, auf einem einsamen Hang oberhalb einer kleinen Landstraße, durchzogen von natürlichen Bodenabsenkungen und Tagebauspuren, wo die Römer einst Blei gefördert hatten. An den Rändern der Mulden wuchsen Feuchtgewächse wie Riedgras und Sumpfringelblumen. Eine halbe Meile weiter unten an der Straße befand sich eine Schweinefarm, und nur wenige hundert Meter jenseits seiner Grundstücksgrenze lagen die Priddy Circles – die Überreste vier neolithischer Steinkreise in einem von Mulden gesprenkelten Gelände. Manch einer erinnerte sich an geheimnisvolle Gerüchte über uralte Rituale. Eine seltsame, entlegene Gegend, in die er da gekommen war, um die Gewalt in ihm zu begreifen, damit das, was sich im Lauf der Jahre in ihm festgesetzt hatte, sich lockern und auflösen könnte.
Etwas bewegte sich am Rand seines Gesichtsfelds. Er tat nichts, stand einfach nur da und lauschte auf das Pochen seines Herzens. Dann drehte er sich langsam zum Fernseher um. Das Gerät war ausgeschaltet, aber das Zimmer spiegelte sich darin: die offene Tür mit dem teppichbelegten Gang, der in den hinteren Teil des Hauses führte. Sein Gesicht, ein wenig hohläugig. Die Fenster mit der orangegelben Kugel der untergehenden Sonne. Man konnte an diesem Spiegelbild nur schwer erkennen, ob die Bewegung im Zimmer oder im Garten gewesen war. Mit angespannten Nerven wartete er darauf, dass sie sich wiederholte. Eine Minute verging, vielleicht etwas mehr, und als er das Ganze gerade seiner Einbildung zuschreiben wollte, hörte er hinter sich ein Klappern und dann einen Krach.
Er fuhr herum. Das Foto lag auf dem Boden. Glasscherben überall, der Rahmen zerbrochen, die kleinen Schrauben lose. Nach all der Arbeit, die er sich gemacht hatte, wollte es immer
noch nicht hängen bleiben. Er ging zur Wand und schob einen Finger in das Loch; der Dübel war herausgefallen und hatte einen Brocken Putz mitgenommen. Er schaute sich im stillen Zimmer um, sah das Licht der untergehenden Sonne auf dem Boden, den Fernseher und wieder das Foto. Er atmete ein und aus, ein und aus und nannte sich einen Idioten. Er war wirklich ein Idiot, denn der Gedanke, der ihm in den Sinn kam, war lächerlich. Der Gedanke, das Haus, so leblos und nichtssagend, wie es war, habe irgendwie einen Weg gefunden, ihn nicht zu mögen.
Tig wohnte in einem der höchsten Wohnblocks von Bristol, einem windumtosten, verwitterten Turm in Rot und Blau in der Siedlung Hopewell. Die Aussicht dort reichte über die ganze Stadt, aber die Hälfte der Wohnungen stand leer: verwüstet und mit Brettern vernagelt. Als sie aus dem Wagen stieg, fiel ihr auf, wie verlassen hier alles wirkte. Ein kleiner Schwarzer ging an ihr vorbei, die Hände in den Taschen, den Blick abgewandt wie alle hier. Aber er war der einzige Mensch, dem sie begegnete, als sie über den Parkplatz zum Hochhaus ging.
Als Tig ihr die Tür öffnete, hatte er die Kette vorgelegt und wirkte ein bisschen verdattert, als hätte er geschlafen. Er rieb sich das Auge mit den Fingerknöcheln. Sein kompakter Körper in dem schwarzen Muscleshirt sah kraftvoll und trainiert aus. »Hi.«
»Hi.«
»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Hatte zwei
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