Ritualmord
irgendwelchen Scheiß in den Arm spritzen.«
Mit den Toten reden, dachte Flea, und sie sah ihre Mutter vor sich, wie sie zwischen den Bäumen kauerte. Mit den Toten reden.
»Wenn du mich jetzt fragst, ob du Sachen aufdecken kannst, die du gesehen hast«, fuhr Tig fort, »Sachen, die du vergessen hast oder von denen du nicht mal wusstest, dass du sie weißt, dann ist die Antwort: Ja. Natürlich. Aber du erfährst nichts, was du nicht schon erfahren hast.«
Sie rieb sich die Arme und wich seinem Blick aus. »Ich habe
bei den Sachen meines Vaters Pilze gefunden. Und ich habe sie gegessen.«
Tigs Blick war durchdringend. »Ausgerechnet du«, brummte er. »Ausgerechnet du.« Er trommelte mit seinen tätowierten Fingern auf dem Tisch. Love. Hate. Love. Hate. »Du bescheuerte Kuh. Komplett bescheuerte Kuh.«
Sie schaute ihn jetzt fest an, sein verrücktes, verkorkstes Gesicht mit dem Auge, das in die falsche Richtung ging, und der Nase, die gebrochen aussah. Das Problem mit dieser Situation hier bei Tig war völlig klar: Sie wollte Drogen benutzen, um tiefer in ihre Erinnerung einzudringen, um Antworten zu finden, von denen sie wusste, dass sie knapp außerhalb ihrer Reichweite lagen. Sie wollte Drogen nehmen, um die Stimmen zu finden. Bei ihm war es genau andersherum. Er hatte Drogen benutzt, um die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Er hatte sie benutzt, um den Zorn zu ersticken. Und das war der Haken. Er mochte sie besser verstehen als andere, aber er würde niemals ganz begreifen, was sie wollte.
Nach einer Weile zuckte er die Achseln. »Na schön. Jetzt hast du es getan. Es ist passiert.« Er lehnte sich zurück und sackte ein wenig zusammen. »Und was macht dir Sorgen?«
»Ich habe meine Mum gesehen. Und sie hat versucht, mir etwas zu sagen.« Flea kippte ihren Stuhl zurück; sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, knüllte sie in der Hand zusammen und konzentrierte sich auf die Decke. »Aber ich kann es nicht genau fassen, und deshalb möchte ich…«
»Du möchtest es noch mal tun?«
»Nicht die Pilze.«
»Oh, jetzt sag nicht, du willst ein Fixer werden wie ich.«
Flea ließ ihren Stuhl wieder nach vorn kippen und schaute ihm in die Augen. »Erinnerst du dich an meinen Freund Kaiser?«
»Ja. Schräger alter Scheißer. Ein Kumpel von deinem Alten.«
»Er sagt, mit Pilzen komme ich da nicht hin.«
Tig nickte. Das Lid über seinem Versehrten Auge hing jetzt herab, als wäre das alles zu anstrengend. »Und?«
»Er hat von was anderem geredet – gestern Abend. Ibogain.«
»Ja, ja, das kenn ich. Biologisch, legal, aus Afrika. Manche Kliniken benutzen es, um die Leute vom Heroin runterzubringen.«
»Kaiser sagt, ich könnte monatelang Pilze essen, ohne weiterzukommen, aber das bringt mich dahin, wo ich hinwill. Es geht hier herein und…«, sie schnippte mit dem Finger an ihre Schläfe, »…und vielleicht werde ich noch einmal mit Mum sprechen können. Herausfinden, was sie mir sagen wollte.«
»Und du glaubst ihm?«
Sie klemmte die Hände zwischen die Knie und betrachtete ihre unberührte Teetasse. Das Rauschen des Scanners im Zimmer nebenan drang durch die Wand. Nein, dachte sie. Nein, eigentlich glaube ich ihm nicht, aber es ist besser als nichts.
»Na ja«, meinte Tig, als er begriff, dass sie nicht antworten würde. »Anscheinend kann ich nichts dazu sagen. Oder? Und Leute wie du, na, du würdest sowieso nie süchtig werden. Anders als Leute wie ich.«
Sie lächelte traurig. »Ich habe vier Tage Urlaub, ab Freitag. Ohne Bereitschaftsdienst.«
Tig erhob sich und holte noch eine Tüte Erdnüsse aus dem Schrank. Er schüttete sie in die Schale, und ein kleines Wölkchen Salz stob auf. Er lachte betrübt. »Also Freitag. Ich versuche gar nicht, es dir auszureden.«
Sie starrte auf die Erdnüsse und wusste in diesem Augenblick, dass es immer so sein würde. Manche Leute kamen davon, und andere nicht. Manche vergoldete das Leben, andere nicht. Und trotz allem, trotz ihres Verlustes und ihrer Ängste, trotz all der Dinge, die sie vielleicht mit Tig gemeinsam hatte, wusste sie im Grunde ihres Herzens, dass sie vergoldet war. Sie war vergoldet, und Tig war es nicht.
15
14. Mai
Jetzt ging die Sonne unter, es wurde kalt, und der Walking Man wanderte nicht mehr. Er hatte sich durch die Hecke am Rand einer kleinen Landstraße in Somerset gezwängt und bereitete auf dem Feld dahinter aus Papierfetzen, die er im Lauf des Tages am Straßenrand aufgesammelt hatte, sein Nachtlager vor. Um halb
Weitere Kostenlose Bücher