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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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bis der kleine Finger Shepton Mallet berührte. Auf den ersten Blick hatten die Wege des Walking Man planlos ausgesehen. Aber nach dem Abend, als Caffery den Cidervorrat unter der Hecke gesehen hatte, war er zu der Überzeugung gelangt, dass seinen Tageszielen ein Plan zugrunde lag. Anhand der wenigen Berichte, die es in der Datenzentrale noch gab, hatte er die einzelnen Etappen abgesteckt, so gut er konnte, und die letzte Übernachtung in der Nähe des Steinbruchs Vobster hinzugefügt. Und als er jetzt in dem dürftig erleuchteten Büro stand, begann er ein Muster zu erkennen. Es sah aus wie ein halb geöffneter Fächer oder ein Tortenstück. Die Basis war Shepton Mallet, und der Bogen gegenüber reichte von Congresbury fast bis Keynsham. Die A37 markierte die gerade Kante.
    Er starrte die geometrische Form noch ein Weilchen an. Dann nahm er seine Jacke von der Stuhllehne und tastete nach den Schlüsseln.
    Das Besondere am Walking Man war, dass er sich den ganzen Tag über bewegte, jeden Tag. Wenn man ihn finden wollte, musste man sich auch bewegen. Entweder das, oder man musste wissen, was er dachte. Caffery behielt die Fächerform im Gedächtnis und fuhr hinaus zur A37, einer alten Straße, die schon die Tempelritter benutzt hatten, eine der ältesten in England. Er kam nach Farrington Gurney und dann nach Ston Easton. Die steilen, tropfnassen Mauern des Dorfes erho- 
    ben sich zu beiden Seiten unmittelbar am Straßenrand. Schleimige Klumpen von Vegetation in den Spalten des Mauerwerks gaben ihm das Gefühl, durch das trockengelegte Bett eines alten Kanals zu fahren. Als das Dorf hinter ihm lag, wurde er langsamer. Auf der Straße herrschte kein Verkehr, und so gondelte er gemächlich dahin. Seine Scheinwerfer verwandelten das Astwerk über der Straße in Kuppeln aus filigranem Eis. Er hatte das Fenster geöffnet und den Ellbogen auf die Türkante gelegt und suchte in der tintenschwarzen Dunkelheit zu beiden Seiten der Straße nach dem Feuer des Walking Man.
    Nach einiger Zeit passierte er einen schmalen Weg auf der rechten Seite. Er war schon ungefähr hundert Meter weitergefahren, als irgendetwas ihn anhalten und wenden ließ. Er fuhr ganz auf das Bankett, sodass kein Rad mehr auf der Straße stand und er die Warnblinkanlage nicht einschalten musste. Dann stieg er aus und kletterte über den niedrigen Zaun in das angrenzende Feld. Die Landschaft war undurchdringlich schwarz; nur hier und da schimmerten die grauen Umrisse eines Baums oder Hügels in der Dunkelheit. Plötzlich fror er. Er zog die Jacke an, blieb stehen und klemmte die Hände unter die Achseln. Lauschte auf das Knacken eines Zweigs und hielt die Nase in die Luft, um den Rauch eines Lagerfeuers zu wittern.
    Der Walking Man hatte einem Mann die Nase abgeschnitten, mit einer Teppichklinge aus einem Werkzeugkasten. Es war hinten in seiner Garage in Shepton Mallet passiert, und er hatte das Opfer – Craig Evans hieß der Mann – ruhiggestellt, indem er es mit rot-weißem Paketklebstreifen für zerbrechliche Ware an ein Bügelbrett gebunden hatte. Evans hatte eine Weile Blut gekotzt; dann hatte der Walking Man mit den Daumen – mit seinen Daumen , das war das Detail, das Caffery am meisten an die Nieren ging – die Augen des Mannes so fest in den Kopf gedrückt, dass sie aus den Höhlen glitten. Als er damit fertig war, hatte er das Bügelbrett an die Wand gelehnt 
    und Evans’ Hände an die Hohlblocksteine genagelt. Hatte ihn gekreuzigt.
    Die Polizei wusste das so genau, weil er ein Video davon gemacht hatte, um es sich später zum Vergnügen anzuschauen. Sie wussten, dass er beide Augen mitsamt den langen, glitschigen roten Fäden, die daran hingen, auf ein Regalbrett gelegt, und Evans dann mit einer Brechstange beide Kniescheiben zertrümmert und ihm den Schwanz abgeschnitten hatte. Er war ins Haus gegangen und hatte alle Teile – die Augen, die Nase, den Schwanz – seelenruhig in eine Keksdose von Cadbury’s gelegt. Als die Polizei sie fand, waren sie so stark verwest, dass der Deckel weggeflogen war.
    Caffery atmete tief ein und stieß die kalte Luft durch die Nasenlöcher aus, dabei dachte er über die Dunkelheit nach. Er lauschte der Stille und entdeckte eine Eule, die wie ein mottengraues Gespenst über den Himmel flatterte. Als kein Laut aus der Dunkelheit drang, ging er zurück zum Wagen. Er stieg ein und blieb sitzen. Hinter dem Gewirr der Äste schoben sich Wolkenfetzen vor den Mond.
    Wieder drang dieser leise Schmerz in seine

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