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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Die Bodendielen waren solide, nichts knarrte oder federte. Mit ein paar Schritten hatte sie den Türrahmen erreicht und blieb stehen. Die Männer unten redeten weiter. Wenn sie den Hals reckte, konnte sie fast das ganze Zimmer hinter der Tür sehen.
    Es war ein seltsames Schlafzimmer, beleuchtet nur von zwei Stehlampen in den Ecken. Sie fühlte sich an ein Siedlerhaus im amerikanischen Westen erinnert: ein nackter Dielenboden, kleinkarierte Stoffe und eine Steppdecke mit einem Stickmuster aus lollipopähnlichen Blumen. Ein Koffer lag auf dem Boden, und gleich daneben kniete eine weiße Frau mit dem Gesicht zum Bett. Sie war ein bisschen jünger als Mabuza, blond und ziemlich fett – ihr Körper schien aus ihrem schlichten weißen Kleid herauszuquellen. Ihr Busen wogte und bebte vom Weinen; es klang merkwürdig, und irgendwie wusste Flea, dass es nichts mit Traurigkeit zu tun hatte.
    Die Frau legte beide Hände auf den Boden und beugte sich vor; ihre dicken Arme bekamen Grübchen, und sie senkte den Kopf, um unter das Bett zu schauen. Selbst von der Tür aus 
    konnte Flea die Tränen erkennen, die an ihren Wimpern hingen, und in diesem Moment begriff sie, was es mit dem Weinen auf sich hatte. Es war ein Weinen der Angst. Die Frau weinte, weil sie sich vor dem fürchtete, was sie unter dem Bett vermutete.
    Sie reckte den Hals, um bis in die hintersten Ecken zu sehen, und als sie nichts entdeckte, richtete sie sich auf und hockte sich auf die Fersen. Langsam, sehr langsam, drehte sie sich um und blickte Flea an. Tränen rollten ihr über die Wangen, aber sie sagte kein Wort, war anscheinend auch nicht überrascht, dass jemand sie beobachtete. Sie starrte sie unverwandt an, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass Flea da war.
    Wortlos zog Flea sich zurück. Sie rechnete damit, dass man jeden Augenblick nach ihr rufen würde. Die Farce mit der Toilette gab sie auf; sie hatte vorgehabt, die Tür zu öffnen und zu schließen, die Spülung zu betätigen und den Wasserhahn laufen zu lassen, doch jetzt lief sie so schnell wie möglich die Treppe hinunter. Die beiden Männer beendeten ihr Gespräch.
    »Es war nett, Sie kennenzulernen«, sagte sie zu Mabuza. Ohne stehen zu bleiben oder ihm die Hand zu reichen, lief sie geradewegs zur Tür. Tig folgte ihr, aber sie ignorierte ihn. »Sehr nett. Ich finde schon hinaus.«
    Draußen ging sie mit verschränkten Armen schnell und schnurgeradeaus. Trotz der warmen Luft fröstelte sie. Sie war froh, der Atmosphäre des Hauses entflohen zu sein. Was sie gesehen hatte, genügte ihr. Gleich morgen früh würde sie mit Jack Caffery reden.
    »Hey.« Sie war schon ziemlich weit die Straße entlanggegangen, als Tig sie einholte. Er packte sie am Arm und riss sie herum. »Scheiße, was hast du dir dabei gedacht?«
    »Er weiß, wer ich bin, Tig.« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und starrte ihn wütend an. »Hast du das nicht gemerkt? Hast du nicht gesehen, wie er mich angeschaut hat? Es war beklemmend.« 

    »Beklemmend war nur, dass du ihn gezwungen hast, über diesen Fall zu reden. Das war beklemmend.«
    »Ich habe ihn nicht gezwungen. Er wollte darüber reden. Und überhaupt – in dem Haus stimmt etwas nicht.«
    »Flea. Flea!« Er zog sie ein Stück weiter, bis man sie von Mabuzas Haustür aus nicht mehr sehen konnte. Es war fast sieben Uhr abends, aber der Himmel war noch blau, und die Geschäftsleute, denen die Häuser in dieser Gegend gehörten, kamen mit ihren Audis und Mercedessen nach Hause. Einige von ihnen musterten Tig und Flea. Einer parkte seinen Wagen, blieb dann mit der Sonnenbrille in der Hand in der Einfahrt stehen und beobachtete sie. »Hör zu«, sagte Tig. »Findest du nicht, dass du dich paranoid benimmst? Du bist schon mit einem unguten Gefühl da reingegangen; du hast nichts gesagt, aber ich hab gemerkt, dass dir unbehaglich war. Du spinnst dir da was zusammen.«
    »Ich hab mir nicht zusammengesponnen, wie er mich angestarrt hat. Als er mich fragte, was die Polizei denkt.«
    »Flea, hör zu, ich sage nicht, dass ich ihn gut kenne, das wäre gelogen, aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er keine schrägen Sachen macht. Er ist nicht hinterhältig.«
    »Ach ja?« Sie war nicht überzeugt. »Bist du sicher?«
    »Ja«, antwortete er und ging zum Wagen. »Ich bin sicher.«
    Sie wartete ein Weilchen und sah ihm nach. Sie hatte immer noch Herzklopfen. Der Mann in der Einfahrt verlor das Interesse und zielte mit der Fernsteuerung auf sein Garagentor.

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