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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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schlimmste Übeltäter war der jüngste Sohn, Toby, ein stämmiges Kind mit einem Topfdeckelhaarschnitt und eng beieinanderstehenden Augen. An einem Nachmittag im Herbst hatte Flea einmal zufällig aus einem ihrer vorderen Fenster geschaut, und da stand der Knirps unten an der Straße vor ihrem Haus und pinkelte vergnügt und ausgiebig an ihre Hauswand. Sie riss das Fenster auf und schrie ihn an, aber er tat, als hörte er sie nicht; gelassen zog er seinen Reißverschluss hoch und spazierte an der Straße entlang zurück zur Villa; dabei kratzte er sich am Kopf, als versuchte er sich an etwas zu erinnern. Als Flea die Schuhe angezogen hatte und zum Herrenhaus hinübergelaufen war, hatte sich die Haustür dort schon wieder geschlossen. Sie musste dreimal klingeln, ehe jemand öffnete. 

    »Bei diesem riesigen Haus brauchten wir zwei Türglocken!« Katherine Oscar hatte immer einen Scherz über die enorme Größe ihres Hauses auf den Lippen, aber als Flea ihr berichtete, was passiert war, verschwand ihr Lächeln. Sie trat aus dem Haus und spähte aufmerksam die Straße entlang, als könnte sie nicht glauben, dass eins ihrer Kinder so etwas getan habe. Sie zog sich wieder in den Hausflur zurück und schloss die Augen. »Wissen Sie, es läuft mir eiskalt über den Rücken, wenn ich mir vorstelle, dass die Kinder da draußen auf der Straße herumlaufen. Danke, dass Sie es mir gesagt haben.«
    Sie wollte die Tür schließen, aber Flea stellte den Fuß dazwischen. »Die Straße interessiert mich nicht, Katherine. Mich interessiert, ob Sie mit dem Jungen sprechen werden.«
    Katherine Oscar wurde rot. »Wie bitte?«
    »Werden Sie mit Ihrem Sohn sprechen?«
    »Natürlich werde ich mit ihm sprechen. Wofür halten Sie mich?«
    Für ein Stück Dreck, dachte Flea und betrachtete das blonde Haar, die teure Bluse, die Ohrstecker. Ja, weißt du was, Katherine? Ich hasse dich. Ich hasse dich, wenn du so hochnäsig auf mich herabblickst und mit deinem Offroader um die Ecke braust, sodass alle anderen Autos deinetwegen anhalten müs¬sen. Ich hasse dich, wenn du wie neulich mit deinem Wagen die Straße blockierst, aussteigst und ein langes Gespräch mit deinem Gärtner führst, ohne dich dafür zu interessieren, dass drei andere Autos fünf Minuten warten müssen, während du dich über Dünger und Setzlinge unterhältst. Ich hasse dich, wenn dicker Rauch aus deinen Kaminen quillt, wenn du jede Woche zwanzig Müllsäcke herausstellst und in einem ganz an¬deren Ton mit Leuten sprichst, die in deine Villa kommen, um für dich zu arbeiten. Du würdest das ganze Dorf zusammen¬schreien, wenn ein Verbrecher in deine Nähe käme, aber dein Mann ist ein Wolf im Schafspelz, der sein Leben am Computer
    verbringt und andere Leute bestiehlt, und der größte Verbre¬cher, den ich in meinem Leben gesehen habe.
    Das alles hätte sie gern gesagt. Sie hätte Katherine Oscar gern an die Wand gedrückt und ihr das alles ins Gesicht geschrien. Aber natürlich tat sie es nicht. Sie konnte jemanden schlagen, sie konnte es schnell und wirkungsvoll tun, aber sie konnte sich auch zusammenreißen. Also nickte sie nur. »Gut«, sagte sie ruhig. »Dann sprechen Sie mit ihm. Und tun Sie es richtig, denn wenn so was noch mal passiert, kann er was erleben. Verstanden?«
    Danach ließen die Oscars sie in Ruhe. Von Zeit zu Zeit sah sie, wie die Jungen sie auf dem Weg zur Schule durch die getönten Scheiben des Offroaders anfunkelten, und sie hörte, wie sie hinter den Fenster des Hauses über sie lachten, aber das war ihr egal. Je weniger sie von ihnen sah, desto besser. Eine Zeit lang hörte sie von den Oscars nichts als das leise Rumoren der Pferde in den Ställen an langen Sommerabenden. Aber wenn sie geglaubt hatte, es habe aufgehört, hatte sie sich geirrt, denn Katherine konnte den Gedanken an den Garten einfach nicht aufgeben. Nach ungefähr sechs Monaten fing sie an, Nachrichten auf Fleas Anrufbeantworter zu hinterlassen und ihr zu sagen, dass die Oscars den Garten trotz aller Differenzen immer noch gern zurückkaufen und sie mit dem Stadtrat und mit der Denkmalbehörde, mit örtlichen Bürgervereinen und dem National Trust darüber sprechen würden, ob der Garten nicht als ursprünglicher Bestandteil des Herrenhauses rückübertragen werden müsse. Zwei- oder dreimal im Monat warf sie Zettel durch den Briefschlitz, und allwöchentlich kam sie vorbei, »nur um hallo zu sagen und zu hören, ob Sie es sich anders überlegt haben«. Sie hielt den Druck

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