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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Glieder, doch diesmal hing er nicht mit der Anspannung zusammen, sondern mit der Müdigkeit, und die Müdigkeit wiederum hatte etwas mit dem Telefongespräch mit dem Gärtner zu tun. War das nicht eine Tragödie, was dem armen Kind da passiert ist?
    Er brauchte eine Weile, um sich darüber klar zu werden, sich an das Gefühl zu erinnern, das er gehabt hatte – nämlich, dass er hier bei irgendetwas außen vor war. Er war der Neue, der Außenseiter. Vielleicht sollte er sich ein bisschen umhören und nachfragen, was ihr zugestoßen war. Aber nicht so offensichtlich, dass er sich damit zum Affen machte. Jetzt hörte er die Stimme des Walking Man: Man vermisst es nicht, wenn man es als etwas betrachtet, das andere Menschen in einem anderen Leben tun. Ja, dachte er, er hat recht, vergiss es. Früher hättest du es getan – du hättest alle Hebel in Bewegung ge- 
    setzt, um alles über sie zu erfahren, über ihr Geheimnis, über das, was ihr passiert ist. Aber jetzt nicht mehr. Deine Welt ist jetzt ein anderer Ort.
    Er startete den Motor und lenkte den Wagen zurück auf die Straße. Es war jetzt nach zehn, und bis er in der City Road ankäme, wäre es kurz vor elf. Um diese Zeit kam Keelie auf die Straße. Er öffnete das Fenster, und der Geruch von Abgasen und Erde wehte herein. Selbst wenn er sich angestrengt konzentrierte, konnte er sich nicht an Keelies Gesicht erinnern und nicht an ihre Haarfarbe. Aber an eines erinnerte er sich: Sie hatte genug Anstand, um ihm niemals, niemals in die Augen zu schauen, wenn er sie fickte. Und das war ja vermutlich auch etwas wert.
    22
    9. Mai
    Einen Tag später liegt Mossy auf dem Sofa und lässt einen Fuß über dem Boden baumeln. Seine Unterlippe ruht auf dem aufwärts gewandten Daumen, und er beobachtet das Gitter und wartet darauf, dass Jonah erscheint.
    Aber der Tag wird zur Nacht, und aus der Nacht wird ein Tag, und niemand kommt. Manchmal glaubt er, die Sonne ist vielleicht am Himmel stecken geblieben, denn jedes Mal, wenn er nach Jahren – wie es ihm vorkommt – die Augen wieder öffnet, scheint das Tageslicht durch das Gitter. Dann wieder ist es, als säße er in einer Zeitmaschine im Schnellvorlauf, und die Sonne zieht rasch wie in einem Stummfilm über den Himmel: Gerade ist er noch sicher, dass es Morgen ist, und dann öffnet er die Augen, und ein Sonnenuntergang greift mit roten Fin 
    gern zwischen den Brettern vor dem Fenster herein und beleuchtet das dreckige, verstaubte Zimmer, das für ihn zur Folterkammer geworden ist.
    Sie leben von Kaffee mit Zucker und »Heißer Tasse«, und ab und zu schiebt Skinny ihm ein bisschen Stoff zu. Den kriegt er vom »Onkel«, der anscheinend immer auf der anderen Seite des Eisengitters sitzt. Onkel muss da draußen ein Zimmer haben, denkt Mossy, denn immer wenn Skinny mit ihm sprechen oder den Raum verlassen will, geht er zu der Gittertür und klopft dreimal. Meistens ist es eine Weile still, dann fällt ein Lichtstrahl in den Korridor, und eine schattenhafte Gestalt füllt ihn aus und bringt Schlüsselklirren und einen kalten Luftzug mit. Mossy kann den Onkel nie richtig sehen, aber er weiß, dass er ganz sicher sein Gesicht verhüllt, denn sein Kopf sieht immer aus, als gehörte er nicht zum Körper: Er ist zu dunkel und zu groß.
    Mossy verbringt Stunden damit, die Gittertür zu studieren, und versucht, sie mit seinen Gedanken zu durchdringen. Dahinter befindet sich ein Gang: Er kann die Wände sehen, und die Raufasertapete ist löchrig und zerrissen und hängt in großen Placken herunter. Irgendwo hört er einen tropfenden Wasserhahn. Die meiste Zeit ist es dunkel im Korridor, denn da gibt es keine Lampe, aber er bekommt ein Gefühl dafür, wie lang er ist, wenn jemand hindurchgeht: Skinny oder der Onkel. Manchmal hört er seltsame Stimmen, elektronisch und sehr abgehackt, aber das sind Geräusche, die nur wellenweise kommen, und er ist nie ganz sicher, ob er sich nicht nur einbildet, sie zu hören.
    Skinny ist alles für Mossy geworden. Ja, sein Gefängniswärter, aber auch sein Anker, der Mensch, der ihm Erleichterung durch eine Nadel verschafft. Er ist immer da, ein heißes kleines Bündel, das sich um Mossys Oberkörper schließt; wie ein Tier gräbt er seine trockenen kleinen Hände hinein. Und wie bei einem Tier, dem die Anwesenheit eines anderen Trost spendet, 
    verschwindet Mossys Angst für ein paar Augenblicke. Er hat das Gefühl, er ist es, der Skinny beschützen sollte, den, der ihn hergebracht hat und plant,

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