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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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»Sie sehen meine Hautfarbe, Sie hören meine Stimme. Ich bin Afrikaner, Flea, und der Afrikaner wird immer der Aussätzige in dieser Welt sein.«
    Flea schniefte. Sie klopfte ihre Jeans ab und tat, als suchte sie ein Taschentuch. Sie schob die Hand in die vordere Tasche und streifte mit einem verstohlenen Fingerschnippen die Teppichfasern ab. Dann legte sie die Hand auf ihren Oberschenkel. Mabuzas Augen verfolgten diese Bewegungen.
    »Sehen Sie«, sagte er nach einer Weile, und sein Blick ruhte weiter auf ihrer Hand, »ich bin in dieser Gesellschaft nicht erwünscht. Deshalb hat jemand…« Er sprach langsam und wiederholte das letzte Wort. »Jemand hat ein entsetzliches Risiko auf sich genommen, um mich zu diskreditieren. Aber…« Unverhofft lächelte er sie an. Seine Zähne waren weiß, und neben dem rechten Eckzahn fehlte einer. »Meine Feinde haben den falschen Weg gewählt. Das ist der Witz an der Sache. Niemand kann mit dem Finger auf mich zeigen – ich bin kein Wilder.«
    »Mr. Mabuza«, entgegnete sie gleichmütig, »Sie sprechen in Rätseln.«
    »In Rätseln? Wohl kaum. Ich versuche Ihnen zu erklären, dass ich noch nie etwas mit der Polizei zu tun hatte.« Er sprach das Wort sehr bedächtig aus und betonte jede Silbe. »Mit der Polizei. Ich weiß nicht, was sie über diesen schwarzen Südafrikaner hier denkt.« Er hob den Kopf und sah ihr wieder in die Augen. »Und Sie? Wissen Sie, was sie denkt?«
    Er weiß es, dachte Flea. Verdammte Scheiße, er weiß, wer ich bin. »Nein«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich habe keine Ahnung, was sie denkt.« 

    Es war lange still. Tig rutschte im Sessel hin und her und räusperte sich. Sie wollte etwas zu ihm sagen, als die Reiseuhr auf dem Kaminsims läutete. Sofort war er auf den Beinen. »Wir sollten jetzt gehen«, sagte er und streckte Flea die Hand hin. »Komm. Wir gehen .Jetzt sofort.«
    Ein wenig zittrig stand sie auf und stellte die Tasse so hart auf den Tisch, dass der Löffel von der Untertasse fiel. »Ich müsste mal die Toilette benutzen, Mr. Mabuza. Ich brauche ein Kleenex oder so was, um mir die Nase zu putzen.«
    Er zögerte einen Moment. Das bildete sie sich nicht ein, sie war sicher. Mabuzas Blick huschte zu Tig, zurück zu ihr und noch einmal zu Tig. Und dann lächelte er freundlich und hob die Hand, um sie hinauszuführen. »Natürlich«, sagte er ruhig. »Unbedingt.«
    Die Toilette befand sich im ersten Stock unmittelbar über der Diele. Langsam stieg sie die Treppe hinauf, die im Bogen um die Diele herumführte, wo die beiden Männer auf sie warteten. Auf der Treppe kam sie an vier oder fünf Nischen in der Wand vorbei. In jeder stand ein Kruzifix, hier ein kleines, da ein großes, und alle neu, während sonst überall Staub lag. Die Wände waren bis Hüfthöhe getäfelt. Sie wusste nicht, was es war, aber irgendetwas an dieser Täfelung bereitete ihr Unbehagen, und sie hielt die Hände vor der Brust, um sie nicht berühren zu müssen. Sie dachte an etwas, das dahinter verborgen war – an Schatten, die nach ihren Fersen schnappten.
    Sie erreichte den Treppenabsatz, schwach beleuchtet und mit einem Hauch von Klinikgeruch. Das Gefühl, dass jemand oder etwas sie beobachtete, war immer noch da. Am Ende der Treppe war eine Tür, wie Mabuza es ihr beschrieben hatte. Sie öffnete sie, zog an einer Schnur, und der kleine Raum wurde hell: schlüsselblumengelbe Keramik, eine Schachtel Kleenex auf dem Spülkasten und ihr Gesicht, das ihr aus dem Spiegel über dem Waschbecken entgegenstarrte. Sie hielt den Türgriff 
    fest und betrachtete sich: das Haar, das ihr in die Stirn hing, die Ringe unter den Augen. Nach einer Weile stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um im Spiegel hinter sich zu schauen, hinunter zu der Täfelung. Da war nichts. Warum hatte sie gedacht, dass dort etwas sein würde?
    Während sie noch überlegte, was sie jetzt tun sollte, hörte sie rechts von sich ein Geräusch und drehte sich um. Ein paar Schritte weiter, auf der anderen Seite des Treppenabsatzes, gab es eine offene Tür. Sie hatte sie vorher nicht bemerkt, aber jetzt konnte sie den Blick nicht von ihr wenden. Das Geräusch kam aus dem Zimmer: Jemand schniefte, als würde er weinen.
    Sie schloss fest die Toilettentür – so, dass man es unten hören konnte. Die beiden Männer standen am Fuße der Treppe und sprachen miteinander in einem gleichbleibenden leisen, vertraulichen Ton. Also machte sie versuchsweise einen Schritt über den Treppenabsatz, auf die offene Tür zu.

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