Ritualmord
scharf und klar wie untergetauchte Stalagmiten, und sie wagte es nicht, in ihre Nähe zu schwimmen, weil sie Angst hatte, sich daran zu schneiden. Sie richtete sich aus und begann langsam zu schwimmen, vor ihr reine, absolute Klarheit - keine Luftblasen, nur die Strömung, die um ihren Anzug glitt. Klar wie Gin. Jetzt verstand sie, was diese Worte bedeuteten. Gin. Klar.
Sie war eine Weile ziellos geschwommen und wusste jetzt, wie es sich anfühlte, ein Fisch zu sein, als sie zur Rechten etwas Strahlendes bemerkte. Sie hielt inne und drehte sich um. Es war der Eingang einer Höhle, hell erleuchtet, und nach kurzem Zögern schwamm sie darauf zu. Als sie bis auf zehn Meter herangekommen war, bemerkte sie Gestalten in der Höhle, beleuchtet wie eine Krippenszene in einer Kirche. Drei Gesichter im gelben Licht: Dad, Thom und Kaiser. Was sie sah, war ein Zimmer: zwei Betten, ein Stuhl mit einem Koffer darauf, ein Kunstdruck - eine Orchidee - an der Wand über Dads Kopf und staubige Vorhänge vor dem Fenster. Sie erkannte das Zimmer; es war das Hotelzimmer in Danielskuil, in dem sie die Nacht vor dem Unfall verbracht hatten.
»Dad?«, sagte sie zögernd, und ihr Mund bewegte sich nur langsam. »Dad?«
Das Geräusch kam wieder, lauter jetzt, wah wah wah, und wie in einem Film, der stehen geblieben war und jetzt wieder anlief, begannen die Gestalten im Zimmer sich zu bewegen. Sie
neigten sich einander zu, sprachen leise miteinander und überprüften ihre Taucherausrüstung. Als ihre Füße zu schmerzen begannen, begriff sie, dass dies keine Halluzination, sondern eine Erinnerung war: dass auch sie sich in diesem Zimmer aufgehalten hatte. Irgendwo passte auch sie in dieses Tableau, ein Stück abseits, außerhalb des eigentlichen Bildes, aber dennoch anwesend, denn an jenem Abend hatte sie mit verbundenen Füßen auf einem Bett gesessen und den Männern zugesehen, wie sie ihre Ausrüstung kontrollierten.
Kaiser und ihr Vater gingen ein kleines Stück beiseite und wandten sich ab von Thom, der vielleicht nah genug war, um ihr Gespräch zu belauschen, aber so sehr damit beschäftigt, die Atemkalkbehälter auf den Kreislauftauchgeräten zu verpacken, dass er nicht auf sie achtete. Sie ließen es beiläufig aussehen, wie sie so miteinander flüsterten. Es war eine private Unterhaltung, sie hatten ein Geheimnis, aber Flea konnte Lippen lesen, und sie verstand jedes Wort, das sie sagten.
Ist es merkwürdig?, fragte Dad und sah Kaiser ins Gesicht.
Ist was merkwürdig ?
Du weißt schon. Wieder hier zu sein. In Afrika.
Das hier ist Südafrika. Nicht Nigeria. Hier ist es nicht passiert.
Flea konnte jedes Wort lesen - es war, als würde ihr Gedächtnis blank und sauber geschrubbt und mit höchster Qualität noch einmal abgespielt. Jedes Pixel war brillant in seiner Klarheit, und das Bild war völlig ruhig, ungestört durch Strömungen und Treibsand.
Trotzdem - nach all den Jahren muss es doch merkwürdig sein. Glaubst du, du könntest zurückkommen und wieder hier leben?
Nein, sagte Kaiser, und sein Gesicht wirkte einen Augenblick lang traurig und alt. Du kennst doch die Antwort. Du weißt, wie sie versucht haben, mich vorzuführen - an mir ein Exempel zu statuieren.
Die beiden Männer fuhren mit ihrer Tätigkeit fort; sie reinigten Masken und überprüften Tauchflaschen, und eine Zeit lang herrschte ein geselliges Schweigen. Dad überprüfte die Bebänderung an seinem Auftriebskompensator und legte ihn dann befriedigt zur Seite. Seine Arbeit war getan, und mit leeren Händen schaute er sich um und vergewisserte sich, dass Thom nicht zuhörte. Dann beugte er sich zu Kaiser hinüber. Hör zu, flüsterte er. Es ist wichtig.
Kaiser schien von seinem Ton überrascht zu sein. Was denn? David? Was ist denn?
Dad beugte sich noch näher zu ihm und antwortete. Aber jetzt war sein Mund halb verdeckt, und Flea verstand nur einzelne Wort: da unten... versprechen... aufpassen, dass... Erfahrung...
Mit klopfendem Herzen starrte sie ihn an, aber als sie gerade näher heranschwimmen und ihn bitten wollte zu wiederholen, was er da gesagt hatte, ließ irgendetwas am Rand ihres Gesichtsfelds sie innehalten. Mit vorsichtigen Bewegungen - sie spürte, dass ihr schlecht werden würde, wenn sie den Kopf hin und her drehte - wandte sie sich um.
Eine lang gestreckte, spitz zulaufende Sandbank lag im Zwielicht zu ihrer Rechten. Langsam, sehr langsam gewöhnten ihre Augen sich an das Halbdunkel, und Umrisse zeichneten sich in der Finsternis
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