Ritus
wie sie war, aus dem Bett und schaute hinüber zu dem kleinen Fenster der Pilgerkapelle. Sie seufzte erleichtert, als sie das schwache Licht hinter dem bunten Glas sah, und wusste, dass Pierre noch immer auf sie wartete.
Schnell warf sie sich den dicken Wintermantel über, stieg in die Schuhe und schlich sich durch das Haus der Äbtissin, die Stufen hinab und zur Tür hinaus. Fröstelnd lief sie über den Hof und spürte, wie sie eine Gänsehaut überkam und sich ihre Brustwarzen verhärteten. Sie hatte den Schlüssel zur Klosterkirche entwendet, sperrte damit die Nebenpforte auf, huschte hindurch und gelangte über den Innenraum zum Durchgang in die Kapelle.
Ihre Vorfreude auf die Liebesnacht, die ihre ewige Zusammengehörigkeit besiegeln sollte, wuchs mit jedem Schritt, den sie tat, und als sie in den Anbau trat, konnte sie es kaum mehr erwarten, in Pierres Armen zu liegen und ihn endlich in sich zu spüren. Es würde ihr erstes Mal sein; Neugier und ein wenig Angst mischten sich.
»Pierre?«, sagte sie und schaute sich suchend um.
»Hier oben«, kam die geraunte Antwort von der Empore.
Sie flog die hölzerne Treppe hinauf, öffnete dabei den Mantel, um ihn mit dem Anblick ihres unverhüllten Körpers zu verführen …
… und verharrte erschrocken auf der letzten Stufe.
»Antoine?« Rasch schlug sie die Bekleidung wieder zusammen. Er hatte schon zu viel von dem gesehen, was ihm nicht zustand.
Der Bruder ihres Geliebten stand breitbeinig vor ihr, eine Hand umfasste den Lauf der Muskete, deren Kolben auf dem Boden ruhte, die andere hielt einen Strauß Ginster. Er wirkte auf sie wie ein Eroberer, der vorgab, in Frieden zu kommen, aber gleichzeitig mit Gewalt drohte. Es fiel ihr nicht schwer zu erahnen, was er von ihr wollte. Und was er sich mit Gewalt nehmen würde, wenn sie sich ihm verweigerte.
»Guten Abend, Florence. Ich wollte dir Blumen mitbringen, aber das ist im Winter sehr schwierig.« Er hob den Ginster. »Ich hoffe, du erkennst meinen guten Willen an.«
Sie sprach erst gar nicht zu ihm, sondern wandte sich um und eilte die Treppe hinab, um durch die Pforte zu entkommen und in die schützende Klosterkirche zu gelangen, während er hinter ihr lachte und sich über ihren Fluchtversuch amüsierte.
Florence kam unter der Empore heraus, als der Schatten über sie hinweg flog und vor ihr landete. Antoine federte den Aufprall mit den Knien ab und erhob sich, als sei er über einen kleinen Bach und nicht aus drei Schritt Höhe herabgesprungen. Er grinste diabolisch, die langen schwarzen Haare hingen ihm wirr im Gesicht, die grünen Augen glommen unheimlich, und seine Zähne kamen ihr unnatürlich kräftig und spitz vor. Sein dunkler Bart war dichter geworden.
»Florence, warum läufst du vor mir weg? Bin ich nicht hübscher als mein Bruder?« Er machte einen schnellen Schritt auf sie zu und packte ihren rechten Arm, zog sie an sich, schob ihren Mantel auseinander und begaffte sie. »Du bist begehrenswerter als jede Hure, die ich genommen habe«, flüsterte er gierig und strich mit dem Ginster über ihre linke Brust. »Es wird etwas ganz …«
Florence tastete hinter sich, bekam einen Kerzenständer zu fassen und schlug ihn Antoine quer ins Gesicht. Das Metall riss die Haut auf und hinterließ einen klaffenden Schnitt in der Wange; der aufdringliche Mann taumelte zurück und fiel auf den Boden der Kapelle.
Florence lief an ihm vorbei. Die kleine Tür war zum Greifen nahe, als er wieder wie aus dem Nichts vor ihr erschien und sie vor Entsetzen aufschrie. Die Wunde … sie war zu einer dünnen weißen Linie im Bart geworden, nur das feucht schimmernde Rot in den schwarzen Haaren erinnerte an den mörderischen Hieb, den sie ihm verpasst hatte!
»Bei Gott dem Allmächtigen! Was … was bist du?«
Antoine langte in ihren Schopf und erzwang einen Kuss; seine Zunge leckte über ihre Lippen und wollte in ihren Mund. Sie zuckte voller Abscheu zurück. Ihre Augen wurden groß: Sie blickte auf ein Raubtiergebiss und hörte den Mann wie einen Wolf knurren.
Ein kalter Wind wehte plötzlich durch die Kapelle, die Kerze vor dem bunten Glasfenster flackerte und erlosch, dann krachte es Ohren betäubend.
Florence spürte einen Luftzug, der durch ihr Haar fuhr, und gleichzeitig wurde Antoines Kopf beim Einschlag der Kugel nach hinten geschlagen. Blut sprühte aus der Wunde unter dem linken Auge und bespritzte Florences nackte Brust. Er ächzte gequält auf und tauchte zwischen die Kirchenbänke ab.
Florence
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