Ritus
verlor er sie aus den Augen.
Er blieb stehen, atmete flach und lauschte auf die Geräusche des Waldes. Der zunehmende Mond schien durch die Bäume, das Weiß des Schnees reflektierte das Licht und vertrieb die absolute Dunkelheit zwischen den Stämmen. Eric hörte … nichts. Völlige Stille. Das Wesen musste sich hinter einen Baum oder einen Busch gekauert haben und hoffen, dass er es nicht bemerkte. Er atmete tief ein und suchte in der reinen Luft nach dem Gestank der Kreatur oder nach dem Geruch ihres Blutes. Jetzt wünschte er sich, sein Fernglas mitgenommen zu haben; im Infrarot-Modus des Geräts hätte die Körpertemperatur die Bestie sofort verraten.
Eric stand in der Kälte und lauerte.
Die Zeit verrann bleischwer und unaufhörlich.
Keiner der beiden Todfeinde bewegte sich.
Nun kroch die eisige Kälte doch in Eric. Seine Arme und Beine begannen zu zittern. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Die Strategie der Bestie ging auf.
Nein!
»Zeig dich!«, schrie er seinen Zorn heraus. »Soll das das Ende sein? Ich erfriere und du verblutest?«
Es raschelte links von ihm, Schnee rieselte von Asten und Zweigen.
Eric hielt den Dolch mit der Klinge nach unten in der Faust und schaute nur kurz hinüber, da er fest davon ausging, dass der Angriff aus einer anderen Richtung erfolgen würde. Er ritzte sich mit einem abgebrochenen, dornigen Ast quer über den Arm, über die Brust, über die Schultern; sein Lebenssaft sickerte aus den Kratzern hervor. »Komm und trink mein Blut, wenn du es wagst!«, rief er fordernd. Das süße Aroma verbreitete sich im dunklen, stillen Wald und hüllte alles ein. Es war für einen hungrigen und verletzten Fleischfresser der unwiderstehlichste Köder. »Es wird dir schmecken und Kraft geben.« Erics Körper sah aus, als sei er mit dünnen Nylonfäden ausgepeitscht worden. »Riechst du meine …«
Ein wolfsgroßer Schatten brach aus dem Unterholz zu seiner Rechten und spurtete über den Schnee geradewegs auf ihn zu, glitzernder Schnee stob in die Höhe. Eric dachte an einen Hai, der durch das Wasser auf seine Beute zupflügt. Er duckte sich und erwartete den Zusammenprall.
Die Bestie stieß sich mit aller verbliebenen Kraft vom Boden ab und katapultierte sich mit der Wut eines von Gott verstoßenen Engels gegen den Menschen; die weit geöffnete Schnauze zielte auf die Kehle.
Eric tat etwas Unerwartetes: Er hob den linken Arm und erlaubte den scharfen Reißzähnen, sich durch das Fleisch bis auf die Unterarmknochen zu bohren. Der Schmerz war unbeschreiblich, Feuer und Eis schossen gleichzeitig hinein, und dem gedämpften Krachen nach zu schließen, brach der Knochen durch die Druckkraft der Kiefer, als wäre er nicht mehr als ein Ast. Eric fiel rückwärts, und die Bestie landete auf ihm.
Der Preis, den das Werwesen für seinen gelungenen Angriff bezahlte, war hoch. Die silberne Spitze des Dolches fuhr in den weichen Unterleib, Eric riss die Schneide zu sich hoch und versuchte, den Körper der Länge nach bis zu den Rippen aufzuschlitzen.
Die roten Augen der Bestie flackerten, aber noch erloschen sie nicht. Der breite Kopf schüttelte Erics Arm und versuchte, ihn aus dem Ellbogengelenk zu reißen und abzutrennen, da stieß ihr die Klinge von unten in die Kehle.
»Stirb endlich!«
Noch mehr Blut spritzte auf Eric; es rann – vor dem Silber flüchtend – zischend auf seine Kratzer und spülte die Krusten davon.
Die Kraft des Werwesens erlahmte, schwand jedoch nicht komplett. Es wusste, dass es seinen Tod bedeutete, wenn es länger blieb. Von einer Sekunde auf die nächste gab es Eric frei und rannte, so schnell es seine schweren Verletzungen erlaubten, in den Wald.
»NEIN!«
Eric wälzte sich auf den Bauch, schleuderte den Dolch und starrte der dunklen Silhouette nach. »Komm zurück!«
Mit einem Mal schwankte der Boden, die Welt um ihn herum drohte zu kippen. Seine Kräfte schwanden. Die Anstrengung, die Verwundung, die Kälte fügten sich zu einem schwächenden Triumvirat.
Für einen Moment lag Eric, nackt und geschunden, im Schnee und starrte verzweifelt in den sternklaren Himmel hinauf. Er konnte die Bestie nicht verfolgen.
Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, bis Eric sich stöhnend aufrichten konnte. Da er nichts anderes besaß als seine Unterhose, um einen Verband anzulegen, schlang er sie um die Bissmale in seinem Arm und hoffte, dass sich die Wunden bald schlossen und der Knochen heilte. Er kniete nackt im Schnee, stützte den verletzten Arm mit dem
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