Ritus
nur einer von euch zum Beten kam, Messieurs?«
»Sie haben mich abgeholt«, antwortete Pierre, »und wir wollten gerade gehen.«
Florence neigte das verhüllte Haupt und stellte sich an ihre Seite. »Ich habe ihnen etwas zu essen und eine Unterkunft für die Nacht angeboten, ehrwürdige Äbtissin.«
Gregoria schaute zu Jean. »Lass es gut sein, Florence. Sie werden unsere Gastfreundschaft nicht annehmen. Der älteste Monsieur Chastel mag den Glauben und unsere Kirche nicht besonders.«
»Der Glaube mag etwas Gutes sein, wenn Gott die Betenden auch erhört und ihnen Hilfe gewährt. Sonst könnte man auch zu einem Baum beten. Der spendet immerhin Früchte, Schatten und Brennholz.« Jean dachte keineswegs daran, vor der Äbtissin aus seiner Meinung einen Hehl zu machen. »Von der Kirche gibt es kaum etwas so Gutes zu berichten.«
Gregorias graubraunen Augen blitzten, und sie reckte das Kinn. »Monsieur Chastel, Gott erhört die Gebete derer, die es verdient haben.«
»So? Und ich dachte, vor Gott sind alle gleich.« Sie führten den Zweikampf weiter, der im Wald des Vivarais seinen Anfang genommen hatte. »Wenn ich mir die Klöster und Kirchen anschaue, hat er es besonders gut mit denen gemeint, die seinen Willen verbreiten. Hängt es vielleicht von der Art des Gebets ab? Oder der Betonung? Wie kommt es, dass er mir niemals beistand?«
Gregoria erkannte, dass sie sich in ihrer ersten Einschätzung Chastels getäuscht hatte. In dem Mann steckte ein wacher und spöttischer Geist – aber eben auch einer, der zutiefst von Gott enttäuscht worden sein musste. »Der Baum, von dem Ihr spracht, wächst nur durch die Gnade Gottes. Er hat ihn mit Erde und Licht umgeben und nährt ihn mit Regen.«
»Das ist die Ausrede aller Pfaffen«, brach es mit einem geringschätzigen Lachen aus ihm heraus. »Alles, was geschieht, geschieht durch seinen Willen. Und treibt es das Unglück zu arg, hat der Teufel seine Hand im Spiel.« Seine braunen Augen suchten ihren Blick. »Nein, Ihr macht mir nichts vor. Ich falle auf die weichen Reden und Predigten nicht herein. Nicht mehr!«
Pierre beobachtete indes Antoine, in dessen grünen Augen er ein alarmierendes Glänzen entdeckt hatte. Die hübsche, unschuldige Florence weckte die triebhafte Begierde seines Bruders, und rasch schob er sich vor ihn, um die junge Frau vor den wollüstigen Blicken zu schützen.
»Wollt Ihr Euch von Gott lossagen, Monsieur Chastel?«, fragte Gregoria. »Bedenkt, wie Ihr lebt und warum sich die Gnade des Allmächtigen nicht auf Euch ergießt.«
»Ich lebe, wie es üblich ist, wenn auch am Rande eines Dorfs. Ich tue nichts Unrechtes. Was kann er mir übel nehmen? Dass ich die verlogenen Worte eines besoffenen Priesters nicht ertrage? Dass Menschen mich beschuldigen, der Sohn einer Hexe zu sein, wird Gott nicht stören. Er weiß es wohl besser.« Jean tat es gut, sich mit der Äbtissin zu streiten. Er fand sich endlich jemandem gegenüber, bei dem er seine angestaute Wut der letzten Jahre abladen konnte. Und es war ihm gleichgültig, eine einflussreiche Frau von gewiss adliger Herkunft vor sich zu haben. »Ich entsage Gott nicht, auch wenn es mir manche unterstellen. Gibt er mir ein Zeichen, werde ich gerne wieder zu ihm beten.«
»Ihr verlangt, dass der Allmächtige Euch ein Zeichen sendet, Monsieur?« Die Anmaßung des Wildhüters übertraf alles, was ihr bislang begegnet war! Bevor sie weitersprechen konnte, fiel er ihr ins Wort.
»Warum nicht? Das tut er im Alten Testament der Heiligen Schrift ständig. Er wird doch nicht vergessen haben, wie es funktioniert? Fragt ihn, wenn er das nächste Mal zu Euch spricht.«
Pierres Reaktion hatte Antoine derweil stutzen lassen. Dann begriff er, weshalb sich der große Bruder als Hüter der Unschuld versuchte. »Hast du endlich auch dein Herz verloren?«, raunte er und schaute Pierre in die Augen, grinste widerlich und leckte sich die Lippen.
»Sei still«, knurrte der Ältere.
»Ich werde sie kosten«, flüsterte Antoine weiter. »Vor dir. Aber keine Sorge, Bruder … ich lasse dich wissen, wie sie schmeckt.«
Das war zu viel. Pierre wandte sich um, schob ihn über die Schwelle der Kapelle, hob die Faust und schlug zu.
Antoine, wendiger und erfahrener, wenn es um Kämpfe ging, wich spöttisch lachend aus und hieb ihm den Lauf der Muskete quer ins Gesicht. Pierre taumelte rückwärts und fiel auf den Boden der Kapelle. Blut sickerte ihm aus der Nase.
»Hört auf!«, herrschte Jean die Söhne an, die sein
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