Ritus
verschwand zur Tür hinaus.
Es roch … es roch nach Kindheit. Eric blieb stehen und wunderte sich, wie sehr sich die Gerüche der Villa in München und des stattlichen Herrensitzes in Russland glichen: Bohnerwachs, altes, trockenes Holz, eine Prise Staub. Der Duft der vielen Erinnerungen, die tief in den Wänden zu stecken schienen.
Er sah seinen Vater vor sich gehen und spürte die kräftige Hand mit der breiten Narbe, die seinen Kopf streichelte. »Papa … ach, Papa«, flüsterte er melancholisch und ging in das Zimmer, das ihm Anatol hergerichtet hatte. Er stellte die Tasche auf das Sofa, streifte die Kleidung ab und lief nackt durch das warme, von Kaminfeuern beheizte Haus.
Vierzehn Jahre war er nicht mehr hier gewesen. Vor Aufregung zitternd, stieg er die Kellertreppe hinab und betrat den dunklen Korridor mit den vielen Türen. Hinter der ersten lag das Labor, hinter der zweiten die Waffenkammer, hinter der dritten … Er blieb vor ihr stehen, die Finger schlossen sich um die Klinke, und im selben Moment hörte er seine Mutter schreien. Eric senkte die Lider und stieß die Tür auf. Er wusste, was sich dahinter befand: der gekachelte Raum.
Es gab keine spezielle Bezeichnung für ihn, es war einfach nur der gekachelte Raum. Darin befanden sich Ketten aus rostfreiem Stahl; sie hingen von der Decke und aus den Wänden. Ganz deutlich vernahm er, wie sie durch den Luftzug, den die Tür ausgelöst hatte, vor und zurück pendelten und sich klirrend berührten.
Langsam, ganz langsam öffnete er die Augen, starrte in den kaum beleuchteten Raum und wartete mit einem Schaudern, dass sich etwas tat. Die Realität blieb gnädig ereignislos, aber nicht seine Vorstellungskraft. Unbarmherzig zeigte sie ihm jene Erinnerung, die der Grund für die lange Petersburger Abstinenz gewesen war. Plötzlich hallten sie wider in dem Gang, die Todesschreie seiner Mutter, wurden übertönt vom lauten Brüllen des Lykantrophen, der sie durch den Keller verfolgte und im gekachelten Raum über sie herfiel. Das Wandelwesen hatte sich von den Fesseln befreit, die sein Vater ihm angelegt hatte, und suchte in jener Vollmondnacht rasend vor Gier ein Opfer, in das es seine Zähne versenken konnte.
Seine Mutter war nicht schnell gestorben. Die Bestie hatte sie auf den Boden gedrückt gehalten und ihren Arm genüsslich zerkaut, wie es Raubtiere mit knochigen Fleischstücken tun, und die Schreie der Hilflosen genossen, ehe sie des Spiels überdrüssig geworden war. Dann erst hatte sie die Kehle seiner Mutter brachial zerfetzt und schmatzend ihr Blut gesoffen.
Eric war es gewesen, der den kaum erkennbaren Leichnam der Mutter als Erster zu Gesicht bekommen hatte. Damals schwor er, ohne Erbarmen jeden Lykantrophen zu jagen, egal ob er dem Wolfstamm oder einer anderen Gattung angehörte. Sie waren alle Raubtiere, alle gleich, mochten sie auch so harmlos wirken wie die unglückselige Tina. Er durfte keine Gnade zeigen. Er schlug die Tür des gekachelten Raums mit Wucht zu und rannte zurück ins Obergeschoss, als könnte er vor den Bildern in seinem Kopf davonlaufen. Dabei wusste er genau, dass sie sich nicht einsperren ließen. Aber man konnte sie wenigstens unkenntlich machen.
Eric lief ins Arbeitszimmer und öffnete die Bar, um sich einen Wodka einzuschenken. Und noch einen, und noch einen.
Der Alkohol schwemmte die Trauer um den Vater frei, Erinnerungen an die Geschichten seiner Familie. Jäger starben nicht friedlich im Bett, sondern auf der Jagd, egal ob es sich um Männer oder Frauen handelte.
Eric trank schneller. Endlich, nach mehr als einer Dreiviertel Flasche, verschwamm auch das Bild seiner zerfetzten Mutter zu einem unpersönlichen, pulsierenden Rot, bei dem er einschlafen konnte.
IX.
KAPITEL
2. Januar 1765, in der Nähe des Dorfs Villaret, Südfrankreich
Jean Chastel betrachtete die schlichte Hütte, aus deren Kamin dichter Qualm stieg, von Weitem. Offenbar gelang es dem Menschen darin nicht, ein gut brennendes Feuer zu entfachen. »Und dieser Mann soll uns helfen können?«
Antoine trat an seine Seite. »Er war Doktor in Paris, bis er in der Gunst seines besten Patienten, des Marquis D’Arlac, sank und man ihm den Prozess wegen Kurpfuscherei machte.«
»Kurpfuscherei.« Jeans Miene verdüsterte sich. »Wir gehen besser wieder.«
»Nein, Vater!« Sein jüngerer Sohn sah ihn flehend an. »Er hat einen guten Ruf bei den Leuten. Er kennt sich mit allen möglichen Krankheiten aus. Bitte, lass es uns versuchen.«
Pierre ging
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