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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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Streitgespräch mit der Äbtissin unterbrochen hatten. Er konnte sich nicht erklären, was den Vernünftigeren von beiden dazu bewogen hatte, eine Prügelei anzufangen.
    Florence eilte auf einen Wink Gregorias heran, kniete sich neben dem Gestürzten auf den Steinboden und half ihm mit ihrem Taschentuch, die Blutung zu stillen.
    »Schluss damit.« Jean packte Pierre am Mantel, schleuderte ihn unsanft hinaus und folgte ihm, wobei er Antoine im Vorbeigehen stumm mit Blicken drohte, jedwede Provokation sein zu lassen. »Ins Dorf mit euch, da reden wir weiter. Der Nonnenkarzer macht euch beide verrückt.«
    Gregoria und Florence standen an der Pforte und schauten zu, wie die drei Gestalten sich von der Anlage entfernten, bis sie ihren Blicken entschwunden waren. Die junge Frau bewegte die Finger der rechten Hand, an denen das Blut Pierres gerann und klebrig wurde. Sie nahm etwas Schnee vom Boden und wusch es ab. Stillschweigend freute sie sich, dass er ihr Geschenk angenommen hatte: Er trug ihr Taschentuch in der Hand, und sie war sich sicher, dass sie ihn wiedersehen würde. Bald schon.
    »Eine seltsame Familie«, sagte Gregoria nachdenklich. Sie hatte sich nach ihrem ersten Zusammentreffen im Wald über die Chastels erkundigt, kannte die Gerüchte und ahnte, dass nicht alles davon stimmte. Doch was konnte man glauben, was nicht? Sie sah zu, wie die Sonne immer tiefer hinter die Bäume und den Montmouchet sank, um den Himmel den Gestirnen der Nacht zu überlassen.
    »Es ist Zeit für das Abendessen, Florence.«
    »Ja, ehrwürdige Äbtissin.«
    Sie ging zurück in das kleine Gotteshaus, während Gregoria die Pforte schloss und von innen verriegelte. Die Äbtissin prüfte den Verschluss mit kräftigem Rütteln an der Tür, sah nach den Fenstern, bekreuzigte sich vor dem Gemälde ihres Schutzheiligen und folgte dann Florence durch die Seitentür.
    Als sie durch den Kreuzgang ins Refektorium ging, stellte sie erstaunt fest, dass sie immer noch an Jean Chastel dachte. Sie erklärte es sich damit, dass es eine Herausforderung wäre, jenen Mann, der seine Meinung unerschrocken offen vertrat, auf den Weg des Glaubens zurückzuführen.

VIII.
KAPITEL
    Russland, Sankt Petersburg, 12. November 2004, 19:06 Uhr
     
    Der Flug verging schnell und ohne Komplikation. Erics kurze Reise hatte aber immerhin ausgereicht, um ein paar beziehungslose, düstere Skizzen in seinem Notizbuch zu Papier zu bringen, seine Art der Bewältigung der Ereignisse der vergangenen Stunden.
    Das Keramikmesser in Erics Gehrock wurde weder beim Ein- noch beim Auschecken von den Detektoren entdeckt. Wie auch? Porzellan galt als ungefährlich, selbst wenn es zwanzig Zentimeter lang, flach und rasiermesserscharf war. Wer auch immer zuerst die Idee gehabt hatte, ein Messer aus diesem Material anzufertigen, Eric würde ihm sofort eine Medaille verleihen. Und er dankte Gott dafür, dass der technologische Fortschritt moderner Küchenutensilien bisher an Flugzeugentführern vorbeigegangen war.
    Anatol Prokoviev, ein Petersburger Urgestein und Hausverwalter des Kastellschen Anwesens, stand in der Ankunftshalle bereit. Er war kein typischer Russe: klein, schwarzes Haar, ein dünner Oberlippenbart und ein charmantes Lächeln, das einen Franzosen neidisch machen würde. Wenn er den Mund öffnete und sprach, überraschte der zierliche Mann Fremde mit einem Bass, der bis zum Erdkern hinabreichte. »Mein aufrichtiges Beileid, Herr von Kastell«, sagte er zur Begrüßung und reichte ihm die Hand. Die braunen Augen zeigten Eric, dass er es ernst meinte. »Ein schwerer Verlust.«
    Eric nickte. »Danke. Haben Sie Neuigkeiten für mich?« Er ging über die Beileidsbekundung hinweg, um nicht schon wieder an den Tod des Vaters denken zu müssen.
    Anatol lief neben ihm her. Vermutlich dachte er wie die meisten, welche die von Kastells kannten, dass sie dem organisierten Verbrechen angehörten, denn anders ließen sich der Reichtum, die Waffen und die häufigen Verletzungen kaum erklären. Eric ließ sie in dem Glauben, es ersparte Scherereien. Ein schlechter Ruf und der Nimbus des zu allem fähigen Mannes sorgten dafür, dass Informationen schneller flossen und sich verschlossene Türen öffneten. Besonders in Russland. »Nichts, was die Medien nicht schon gemeldet hätten. Bis auf den Umstand, dass es sich nicht um eine stumpfe Klinge oder einen Nagel gehandelt hat, sondern um …«
    »Zähne.«
    »Woher wissen Sie das?«
    Die Männer hatten die Halle verlassen und gingen über

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