Ritus
an ihnen vorbei, blieb stehen und schaute ebenfalls abschätzend zu der Behausung. »Es ist unsere einzige Hoffnung«, sagte er dem Vater dann.
Voller schlechter Ahnungen setzte sich Jean in Bewegung. »Ihr wartet draußen auf mich«, befahl er ihnen, als sie vor der Tür standen. Er klopfte und trat ein.
Eine für das Gevaudan ungewöhnliche Erscheinung saß an dem grob gezimmerten Tisch des einfachen Zimmers. Die vornehme Kleidung des kräftigen Mannes stand im Widerspruch zum kargen Interieur, er trug sogar eine Weißhaarperücke auf dem Kopf. Der Mann wirkte eindeutig deplatziert. Er überprüfte die Schärfe seiner chirurgischen Instrumente, mit denen er entweder das Leben der Delinquenten bewahrte, bis sie rechtsgültig ihrer Strafe zugeführt wurden, oder mit denen er ihnen das Leben zur Hölle auf Erden machte. Als Jean eintrat, hob er den Kopf. »Monsieur?«
»Seid Ihr Claude Penchenat, der Henker?« Der Mann, der nicht älter als vierzig Jahre sein konnte, lächelte und musterte ihn mit seinen hellblauen Augen. »Ich bin vieles, Monsieur.« Eine Hand hielt ein dünnes Messer, die andere einen schmalen Schleifstein; schabend glitten Metall und Stein aneinander entlang. »Womit kann ich Euch helfen?« Seine Augen wanderten zur Muskete.
»Ihr habt von der Bestie gehört, Monsieur Penchenat?«
»Es ist schwierig geworden, nichts über sie zu hören. Oder die Belohnungen.« Er deutete auf den freien Stuhl am Tisch. »Setzt Euch.«
Jean tat es und sah sich dabei um. Die Hütte war sauber und aufgeräumt, keine Spinnweben, kein Schmutz. »Es gibt Leute, die sagen, es sei ein Loup-Garou. Wenn dem so ist, brauchen wir ein Mittel gegen ihn.«
»Ihr werdet Euch nicht wundern, dass mich in den letzten Wochen zahlreiche Leute vor Euch aufsuchten, die nach einem Schutz vor solch einer Bestie baten, Monsieur. Nun, in einigen Büchern steht geschrieben, dass es genügt, ein silbernes Messer unter der Türschwelle zu vergraben, damit er Euch nicht im eigenen Haus auffrisst.«
»Ihr versteht mich falsch. Wir wollen ihn nicht von uns fern halten«, verbesserte Jean. Er war stolz auf sich, dass er so gelassen und unbeteiligt wirkte. »Doch zuvor lasst mich Euch einen Rat geben: Ihr habt die Abzugsklappe halb geschlossen. So wird Euer Feuer nicht brennen.«
»Habe ich wieder vergessen, sie zu öffnen? Mein Leben war um so vieles leichter, als ich noch in der Stadt lebte und mir einen Diener für solche Aufgaben leisten konnte. Meinen Dank für Eure Hilfe.« Penchenat legte Schleifstein und Messer zur Seite. »Aber nun zu Eurem … Problem. An Eurem Äußeren erkennt man leicht, was Eure Profession ist, Monsieur. Ihr macht Jagd auf die Bestie und fürchtet, sie könnte Euch ebenfalls verwunden. Was wärt Ihr bereit zu zahlen, um kein Loup-Garou zu werden?« Er stand auf, rüttelte kurz am Griff, der den Mechanismus der Abzugsklappe bediente, und verschwand dann im Zimmer nebenan. Jean warf einen besorgten Blick aus dem Fenster, sah Pierre und Antoine vor dem kleinen Haus warten, wo sie sich einmal mehr gestenreich stritten. »Gibt es denn ein Mittel?« Während er dem leisen Klirren von Flaschen und anderen Gefäßen aus dem Nebenzimmer lauschte, dachte er an die vergangenen Tage, in denen sie wie die Vagabunden umhergereist waren. Obgleich er den Söhnen jeden Abend Ketten anlegte, war es mehr als einmal vorgekommen, dass er aus seinem Schlaf erwachte und sie ohne Fesseln vorfand. Die Verwandlung zum Garou ermöglichte es ihnen ganz offensichtlich, aus den Eisen zu schlüpfen. Weder Pierre noch Antoine erinnerten sich am nächsten Morgen an ihr Tun, und so erwarteten sie unruhig neue Kunde von den Taten der Bestie in ihrer Umgebung.
Wenigstens wusste er, dass nicht alle Toten Pierre und Antoine zuzuschreiben waren. Die Bestie schlug immer wieder in Gegenden zu, die seine Söhne von ihrem jeweiligen Unterschlupf aus unmöglich in einer Nacht erreichen und danach zurückkehren konnten. Penchenat tauchte wieder auf und hielt einen zierlichen Flakon in der Rechten, der zwischen den kräftigen Fingern sehr zerbrechlich wirkte. »Eine Essenz«, sagte er erklärend. Die dunkle Brühe schwappte gegen das durchsichtige Glas und lief zäh daran herab. »Gebraut aus Wolfskraut und anderen geheimen Zutaten. Sie hilft gegen Schleim, schwarze Galle und verdickte Körpersäfte, auch bei Wassersucht und Gicht.« Er stellte den Flakon sanft auf den Tisch. »Man empfiehlt sie auch gegen Lepra und Fieber.«
»Und gegen den Biss des
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