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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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betrachtete die Bücher, die an der Wand säuberlich geordnet in Regalen standen. Sie behandelten medizinische Fragen, aber auch philosophische Werke waren darunter. Ungewöhnlich viele. Kein Wunder, dass er Paris verlassen hatte – mit einer solchen Bibliothek musste man zwangsläufig in den Verdacht kommen, ein Freidenker zu sein. Penchenat sprach außerdem sehr offen über seine Mittel, die er verkaufte. Er konnte von Glück sagen, dass Hexerei von den einfachen Menschen gerade ausnahmsweise als so nützlich angesehen wurde, dass ihn niemand anzeigte.
    Penchenat brauchte dieses Mal noch länger als bei seinem ersten Verschwinden. Als er zurückkam, hielt er ein fleckiges Blatt waagerecht in seinen Händen und blies darüber.
    »Ich habe Euch eine Abschrift angefertigt, Monsieur«, erklärte er, warf einen letzten Blick auf die Buchstaben, rollte es zusammen und steckte es in eine lederne Hülle. »Nun seid Ihr vor dem Fluch der Bestie geschützt. Ich wünsche Euch und uns, dass Ihr sie bald erlegt.« Er legte die Rolle in die geöffnete Hand des Wildhüters. »A dieu.«
    Jean trat hinaus in den Schein der Wintersonne und wunderte sich, dass er nur Pierre vorfand. Böses befürchtend, fragte er: »Wo ist dein Bruder?«
    Pierre deutete auf den Hang unterhalb eines Berges. »Er hat gesagt, sein Blut begänne zu kochen und er müsse weg, um uns nicht in Gefahr zu bringen. Er würde zu uns zurückkehren, wenn sich die Bestie in ihm beruhigt hätte«, erklärte er leise, damit Penchenat, dessen neugieriges, perückenhaarumrahmtes Gesicht am Fenster erschien, nichts hörte.
    Jean kam aus dem Fluchen nicht mehr heraus. Seine guten Augen zeigten ihm in der Ferne einige dunkle Punkte auf dem weißen Schnee, die sich zwischen den Bäumen und Gebüschen bewegten. Es sah aus wie Schafe und eine Schar Kinder, die zum Hüten abgestellt worden waren. Antoines Vorliebe für die Schwachen schlug einmal mehr zu. »Und wie fühlst du dich?«
    »Gut. Das Fieber scheint mich dieses Mal zu verschonen«, antwortete Pierre. »Hattest du Erfolg, Vater?«
    »Wir reden später drüber. Erst müssen wir ein neues Unheil verhindern.« Er verfiel in raschen Trab, immer den Spuren Antoines folgend. Pierre folgte ihm.
    Hinter ihnen wurde die Tür der Hütte aufgestoßen. »Messieurs, ist es die Bestie?«, rief ihnen Penchenat aufgeregt hinterher. »Ist sie zu uns gekommen? Soll ich ins Dorf laufen und Hilfe holen?«
    Vater und Sohn sparten sich den Atem, sie mussten sich beeilen.
     
    »Und wenn die Bestie kommt?«
    »Dann stechen wir sie tot!«, antwortete Jacques-André Portefaix übermütig auf die Frage seines Freundes und schwenkte den Spieß, den ihm sein Vater gemacht hatte, um sich gegen den gefräßigen Wolf verteidigen zu können. Er war das größte der insgesamt sieben Kinder im Alter von acht bis dreizehn Jahren, die in den Bergen unweit des Dorfes Villaret nach dem Vieh schauten, und unbestrittener Anführer der Gruppe. »Ihr seid doch meiner Meinung?«
    Die Jungen nickten eifrig, die beiden Mädchen schienen jedoch keinesfalls begeistert von Jacques-Andrés Heldenmut zu sein. Er sah ihnen an, dass sie froh sein würden, wieder zu Hause zu sein, geborgen hinter den Granitwänden und beschützt von den starken Armen ihrer Eltern.
    Die Schafe blökten plötzlich und hoben die Köpfe; sie witterten etwas im Wind und liefen los, weg von ihren Hirten.
    Jacques-André ahnte, was das Verhalten bedeutete. Er wandte sich suchend nach allen Seiten um, während einige der Kinder versuchten, die verängstigten Tiere aufzuhalten. Jacques hielt seinen Spieß fester, spähte umher, stach in das nächstbeste Ginstergebüsch und stocherte im Unterholz. Dann raschelte es unvermittelt seitlich des Weges.
    »Die Bestie!«, rief er aufgeregt, hob seine Waffe und schlug in einen verschneiten Laubhaufen, so dass das Weiß in die Höhe spritzte. Nichts.
    Der laute Schrei eines Mädchens alarmierte ihn. Er wandte sich um und entdeckte zu seinem Entsetzen wirklich ein wolfsähnliches Tier, das keine fünf Schritte von ihnen entfernt wie aus dem Nichts erschienen war. »Rasch, lauft zusammen!«, rief er. »Stellt euch mit dem Rücken aneinander und reckt die Spieße nach außen.«
    War die Angst auch noch so groß, die Jungen und Mädchen gehorchten. Sie hatten das Manöver schon unzählige Male geübt, aber niemals hatten sie daran gedacht, dass sie dem Raubtier wahrhaftig begegnen würden.
    Die Bestie kam gemächlich näher, drückte sich flach an den

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