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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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Boden und benahm sich wie eine Katze, weniger wie ein Wolf. Den Schwanz hatte sie fast kerzengerade nach oben gerichtet, die roten Augen fixierten die Kinder, während sie um sie herum kreiste. Sie suchte sich ein leichtes Opfer aus.
    Jacques-André hatte fürchterliche Angst, aber er wollte es die Bestie nicht spüren lassen. Insgeheim träumte er davon, dass er es war, dessen Spieß das Wesen zur Strecke brachte, diese seltsame Mischung aus Hund, Wolf und irgendetwas anderem. Selbst der garstigste Hundebastard sah nicht so widerlich aus wie dieses Tier – und war auch ganz sicher nicht so groß und gefährlich!
    Die Bestie hatte ihre Wahl getroffen. Sie schlüpfte blitzschnell zwischen den Spießen hindurch, stand plötzlich mitten unter den kreischenden Kindern – und fiel Joseph an, den zweitjüngsten und kleinsten Knaben. Schreiend verschwand er unter den riesigen, krallenbewehrten Pfoten. Die Bestie kümmerte sich nicht um die anderen Jungen, sah sie offensichtlich nicht als Bedrohung an. Geifernd betrachtete sie das sich windende Opfer, riss ihr Maul auf und biss zu, mitten ins Gesicht. Die Schreie des Kindes wurden auf grauenhafte Art gedämpft.
    »Stecht sie ab!«, brüllte Jacques-André, nachdem er seinen ersten Schrecken überwunden hatte und die anderen Kinder Anstalten machten, ängstlich vor dem Feind zurückzuweichen. Er holte aus und rammte die Spitze seines Spießes mit aller Kraft in die Flanke des Tiers. Und obwohl sie mehr Angst hatten als jemals zuvor in ihrem Leben, sprangen zwei Knaben ihrem Anführer zu Hilfe.
    Obwohl sie die Bestie nicht tödlich verletzten, bereiteten die Speere ihr doch Schmerzen. Knurrend und Zähne fletschend ließ sie vom wimmernden Joseph ab, schnellte mit einem einzigen weiten Satz aus der Mitte heraus und kauerte sich einige Schritte von den Kindern entfernt nieder. Dort aber verharrte sie, als wäre nichts geschehen, kaute genüsslich auf etwas herum und schlang es hinunter.
    Die kleine Gruppe löste sich auf; die Mädchen wollten davonrennen und hörten nicht mehr auf zu kreischen und zu weinen. »Seid ruhig!«, brüllte Jacques-André. »Kommt her, los! Wieder alle zusammen, die Spieße hoch! Und gebt besser Acht!«, gab er neue Anweisung. Dann bemerkte er das Blut der Bestie an seiner Waffe. »Seht, man kann sie verletzen!« Die Kinder umringten ihren Verwundeten, dem die Schmerzen gnädig die Besinnung geraubt hatten; das Blut lief ihm über das zerbissene Gesicht und rann durch den Schnee auf die gefrorene Erde.
    »Sie kommt wieder!«, heulte eines der Mädchen voller Furcht auf, senkte den Spieß aber nicht. Stattdessen ließ sie ihn fallen und warf sich zu Boden, die Hände schützend über den Kopf gelegt. »Heilige Mutter Gottes …«
    Das Tier täuschte einen Sprung an, duckte sich jedoch dann unter den Speeren weg und schnappte das Bein des nächsten Kindes. Dieses Mal hatte sie Jean auserkoren, den jüngsten Knaben. Sie zerrte ihn davon und rannte geradewegs auf eine Ginsterhecke zu.
    »Lasst uns abhauen«, rief Jacques Coustou mit zitternder Stimme. Er warf seine Waffe zu Boden, wandte sich um und rannte los. Die Mädchen, die gar nicht mehr aufhören wollten zu weinen, folgten ihm.
    »Kommt zurück!«, schrie Jacques-André.
    »Sie wird uns der Reihe nach fressen, wenn wir ausharren!«
    »Lieber sterbe ich mit unserem Freund, als ihn aufzugeben!« Jacques-André war wild entschlossen, die Bestie zu verfolgen, um ihr die Beute zu entreißen.
    Nach wenigen Schritten spürte er, dass der Boden unter ihm weich wurde. Die Bestie hatte sich ihren Fluchtweg durch eines der nicht gefrorenen Sumpflöcher gesucht.
    Ihre Pfoten versanken immer wieder in der grasbedeckten Brühe, das Gewicht ihres Opfers zog sie zusammen mit ihrem eigenen in den Schlamm. Ihr Verfolger aber war leicht genug, um nicht einzusinken.
    Und trotzdem dachte die Bestie gar nicht daran, Jean freizugeben. Der kleine Junge wurde von der linken Vorderpfote auf die weiche Erde gepresst, ab und zu schnappte das Tier nach ihm und riss blutige Stücke aus ihm heraus. Jean schrie und heulte.
    »Lass ihn los!«, brüllte Jacques-André und zielte auf den breiten Kopf und die empfindlichen Augen. Er traf letztlich in das schwarze, stinkende Maul. Die Bestie fauchte wütend auf.
    Unvermittelt tauchten nun auch die anderen Kinder wieder auf. Angesteckt vom Mut ihres Anführers rannten die Jungen und Mädchen schreiend und lärmend herbei und stachen mit ihren Spießen auf die Bestie ein. Aber so sehr

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