Ritus
sich Pierre neugierig bei dem Mann, der das Alter seines Vaters hatte. »Eure Art zu sprechen zeigt, dass Ihr eine weite Reise unternommen habt.«
»Aus der Bukowina.« Er lupfte den Dreispitz, zeigte kurzes, graues Haar und vollführte eine höfisch anmutende Verbeugung. »Gestatten, Virgilijus Malesky, einst ein stolzer Gutsbesitzer und dann geflohen vor dem Hospodaren von Moldowa.« Er setzte sich den Hut wieder auf. »Solltet Ihr jemals dorthin reisen, Monsieur Chastel, sei Euch gesagt, dass mit den Osmanen und ihren Phanarioten nicht zu spaßen ist.«
»Phanarioten?«
»Stadthalter, mein Junge.«
Pierre war von den vielen Worten, mit denen er nichts anfangen konnte, überfordert. Weder kannte er den Ort Bukowina, noch wusste er, was ein Hospodar oder ein Moldowa war. Einzig der Begriff Osmane sagte ihm etwas. »Also länger als eine Reise von einer Woche entfernt?«, setzte er vorsichtig nach, was Malesky, der ein Pincenez mit blauen Gläsern aus dem Blechetui nahm und auf den schlanken Nasenrücken setzte, zum Grinsen brachte.
»Achtung!«, rief der Dragoner plötzlich. »Wölfe!«
Und wirklich brachen sieben Graupelze aus dem Wald. Sie hatten die vielen Menschen vor sich schon lange gewittert und es nicht gewagt, über die Ebene zu laufen, doch die anrückenden Treiber ließen ihnen keine andere Wahl. In kurzen Abständen rannten sie hintereinander her am ersten Hügel vorbei.
Ein lang gezogenes Knattern und Prasseln erklang, vor den Mündungen blitzte und rauchte es, über der Kuppe stiegen kleine Pulverwolken auf und vereinigten sich zu größeren Schwaden. Schnee spritzte auf der Ebene in die Höhe jaulend brachen vier Tiere zusammen, überschlugen sich mehrmals und verendeten durchlöchert und verblutend. Drei entkamen der ersten Salve mehr oder weniger unverletzt.
Jean und Pierre hoben ihre Musketen, würden aber nicht feuern. Es gab keinen Grund, die Wölfe zu erlegen. Die anderen Jäger aber machten ihre Waffen bereit, legten an und konzentrierten sich. Die Tiere hetzten heran. Kaum ertönte der erste Schuss, stimmten die übrigen Musketen in den brachialen Chor des Todes mit ein.
Nicht ein einziger der Wölfe entkam dem Sturm aus Blei. Am unstrittigsten war der Treffer, der dem Italiener gelang. Der Knall der Belagerungsbüchse übertönte alles. Die gewaltige Kugel drang in den Kopf eines Wolfes ein, durchschlug den Körper der Länge nach und riss den Hinterleib ab.
Jean verspürte Ärger wegen des sinnlosen Tötens. Die Graupelze blieben in den Augen der Obrigkeit jedoch verständlicherweise die Hauptschuldigen. Man durfte keinesfalls offiziell verlauten lassen, dass man einen Loup-Garou jagte.
Das große Nachladen hatte begonnen. Das reibende Geräusch der Ladestöcke, das Pochen der Pulverhörner, das dumpfe Klimpern der Bleikugeln, die aus den Taschen genommen wurden, lagen in der Luft. Hier und da freuten sich Jäger lautstark über ihre Abschüsse, und vor allem der Italiener war kaum zu bändigen. Er hüpfte auf und nieder, deutete ständig auf den unkenntlichen Kadaver und fiel seinen Freunden in die Arme. Seine Treffsicherheit und die Zuverlässigkeit seiner zunächst von den anderen belächelten Waffe waren unter Beweis gestellt worden.
»Ein bisschen Beeilung«, verlangte der Dragoner in militärischem Ton. »Auf dem Schlachtfeld wärt ihr schon lange zusammengeschossen worden.«
»Es sind Jäger. Sie müssen nicht so schnell sein wie Ihr«, gab Malesky unverfroren zurück. »Selten sieht man Bären und Wölfe mit Musketen durch den Wald streifen.«
»Ein Spaßvogel!« Der Dragoner lenkte sein Pferd zu ihm und drängte es gegen ihn. »Dein Schnabel …«
Malesky griff furchtlos nach dem Zaumzeug und hielt es eisern fest. »Spart Euch den Atem. Ihr könnt mich nicht beeindrucken. Sucht Euch ein paar von den bejammernswerten Fußsoldaten und befehlt denen, in Habachtstellung zu gehen. Ich dagegen bin ein freier Mann, der sich von Euch nichts gefallen lassen muss.«
Der Dragoner zwang das Pferd mit dem Druck seiner Schenkel rückwärts. Malesky ließ die Lederriemen los.
»Wir sprechen uns nach der Jagd, Blaubrille. Ich stopfe dir deinen großen Spaßvogelschnabel.« Er ritt nach links davon, um nach anderen Jägern zu schauen.
Jean war nicht entgangen, dass der Moldawier nicht geschossen hatte. »Ihr spart Euch die Kugel für die Bestie?«, fragte er.
Die blauen Augen richteten sich auf das Gesicht des Wildhüters, das Gestell des Pincenez blinkte im Schein der Sonne.
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