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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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sich Jacques-André und seine tapferen Freunde anstrengten, sie trafen die unheimlichen roten Augen nicht ein einziges Mal. Immerhin ließen die ständigen Attacken der Kinder dem Wesen nicht die Zeit, seine Beute zu töten.
    »Hau ab!« Jacques-André drosch der Bestie seinen Speer genau auf die Nase. Mit einem klagenden Laut sprang sie zurück und ließ von dem Freund ab, leckte sich die empfindliche Schnauze – und senkte nach einer kurzen Erholung angriffslustig den Kopf. Das Knurren veränderte sich und kündigte die nächste Attacke an. Dieses Mal, das sah man ihr deutlich an, würde sie sich den Anführer der Kinder packen und den Widerstand auf diese Weise brechen. Die Ohren legten sich nach hinten.
    »Zieht ihn weg«, ordnete Jacques-André an und stellte sich der Bestie furchtlos in den Weg, damit seine Freunde den verletzten Jean bergen konnten.
    Das Fell geriet in Bewegung, die Muskulatur des stattlichen Tiers spannte sich darunter; die Kiefer klappten geifernd auseinander und warteten darauf, sich um eine Kehle zu schließen.
    In diesem Moment kam ein älterer Mann angerannt. Er bemerkte den tückischen Sumpf rechtzeitig, kniete sich am Rand nieder und brachte die Muskete in Anschlag. Ein zweiter, jüngerer Mann tauchte auf, auch er hob seine Waffe. Die Schüsse donnerten kurz nacheinander.
    Rechts und links der Bestie flog feuchte Erde in die Höhe, während die Kugeln glucksend in den Sumpf jagten. Der erleichterte Jacques-André hörte an den Stimmen hinter sich, dass noch mehr Menschen herbeieilten; angeführt wurden sie von Penchenat, der sie mit seinen Rufen anpeitschte.
    Dieser Übermacht wollte sich die Bestie nicht stellen. Sie flüchtete, sprang durch einen nahen Bach, wälzte sich kurz im reifüberzogenen Gras, als wollte sie ihre Niederlage abstreifen, bevor sie endgültig in den Ginsterhecken und im angrenzenden Pinienwald verschwand.
    Nun überkam Jacques-André eine rasant stärker werdende Erschöpfung. Er trat vorsichtig aus dem Sumpf heraus und sank neben seinen Freunden und zu den Füßen der Dörfler in den Schnee, bleich wie ein Leintuch. Er vermochte nichts mehr zu sagen.
    Jean Chastel klopfte dem Jungen anerkennend auf die Schulter. »Tapferer Bursche. Du bist der Erste, der die Bestie mit einem Spieß in die Flucht geschlagen hat.«
    »Das waren eure Musketen, Messieurs.«
    Die Frauen kümmerten sich um die beiden Verletzten. Sie waren übel zugerichtet worden, doch sie würden überleben.
    Jean Chastel sah, wie eine der Frauen für ein paar Münzen vom Henker ein Fläschchen gereicht bekam. Es war die gleiche Flüssigkeit darin wie in dem Gefäß, das er für viel Geld von dem Mann gekauft hatte. Penchenat hatte ihn belogen, um den Preis in die Höhe zu treiben.
    Sie zwang ihrem Sohn den Trank in den Hals und hielt ihm den Mund zu, weil er ihn wieder ausspucken wollte. Beschwörend sprach sie auf ihn ein, und schließlich schluckte er mit ekelverzerrtem Gesicht. Wahrscheinlich stand dem zweiten Opfer eine ähnliche Prozedur bevor, um zu verhindern, dass sie vom Fluch des Garou getroffen wurden.
    »Wir haben Helden!«, schrie einer der Männer, zerrte den Hirtenjungen auf die Beine und hob ihn in die Höhe. »Und Jacques-André Portefaix ist ihr Anführer. Bringt ihn zu dem Versager Duhamel, damit er dem Capitaine zeigt, wie man es macht! Das soll der König erfahren!« Die Kinder wurden auf die Schultern der Erwachsenen gehoben und zurück nach Villaret getragen. Es war ein Triumphzug über die Bestie.
    Die Chastels und Penchenat blieben zurück.
    »So weit ist es gekommen«, brummte der Henker und verstaute die Münzen, die ihm die Frauen gegeben hatten, schnell in seiner Tasche. »Wir freuen uns schon, wenn wir die Begegnung mit der Bestie nur überlebt haben.« Es schaute zu Jean und Pierre. »Ihr werdet ihre Spur sicherlich wiederfinden, Messieurs. Viel Glück und den Segen Gottes wünsche ich euch.« Er grinste. »Falls ihr beides nicht haben solltet, ihr wisst, wo ihr mich findet. Meine Tränke bieten Schutz. Sofern ihr sie bezahlen könnt.« Eine fröhliche Melodie pfeifend, ging er den schmalen, verschneiten Weg entlang und verschwand hinter einem Granitfelsen.
    »Es ist unredlich, dass sich einer mit den Ängsten der Leute die Taschen füllt«, bemerkte Pierre, während er seine Muskete lud. Er hatte ebenso absichtlich vorbeigeschossen wie sein Vater, um Antoines Leben nicht zu gefährden. »Wie gut, dass die Jungen überlebt haben«, fügte er leise hinzu. »Die

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