Ritus
zu ihm sagte, als sie vom Ast sprang, und sah sie durch einen Schleier hindurch über sich. »Bitte, geh! Rette dich«, krächzte er, ehe sein Verstand ins Dunkel glitt und er im Schatten des Apfelbaumes ohnmächtig wurde.
24. Mai 1765, Malzieu, S üdfrankreich
»Monsieur Chastel, Vorsicht!«
Auch ohne den warnenden Ruf von Malesky wäre er den heranstürmenden Hunden ausgewichen. Er hörte das aufgeregte Gebell schon von Weitem und drückte sich an den Rand der Gasse, die zum Marktplatz führte.
Die Tiere rannten durch die Menge, sprangen zwischen den Beinen der Leute hindurch und fanden überall eine Lücke, um voranzukommen. Nichts hielt sie auf, wenn sie einer Spur folgten. Ihnen schloss sich mit großem Abstand ein tobender, schreiender Hundewart an, der mit blutenden Händen hinterherlief und versuchte, die entwischten Tiere einzufangen. Die Hunde hatten sich mit Vehemenz losgerissen, die Leinen mussten ihm tief ins Fleisch geschnitten haben.
Der Moldawier und der Wildhüter wechselten einen schnellen Blick: Sie dachten das Gleiche.
»Glaubt Ihr, dass die Hunde die Witterung der Bestie mitten in Malzieu aufgenommen haben?«, sprach Malesky seine Gedanken laut aus. »Ist es vielleicht möglich, dass die Bestie in einem der Häuser versteckt ist und wir kurz davor stehen, ihren Besitzer zu entlarven?« Er nahm sein Pincenez aus dem Etui, polierte ihn kurz an seinem Rock und klemmte ihn sich auf den Nasenrücken. Das Blau der Gläser verlieh seinem Gesicht Entschlossenheit und Kaltblütigkeit. »Oder nehmen wir an, es stimmte, was die Leute sagen, und es ist ein Loup-Garou, der in seiner menschlichen Gestalt umherläuft … könnte es sein, dass die Hunde ihn wittern?«
Jean beherrschte sich, um sein Erschrecken zu verbergen. »Nein, sicherlich nicht. Die Hunde sind schlecht gefüttert worden und haben die Fährte eines Tieres aufgenommen. Der Markt wimmelt nur so von ihnen.« Dann tat er so, als habe er in der Menge einen alten Bekannten entdeckt. »Wartet hier, Monsieur Malesky. Ich bin gleich wieder bei Euch. Ich gehe jemandem bonjour sagen«, rief er und drängte sich mitten ins Gewühl des Festes. Nach zwei Schritten duckte er sich und machte sich auf diese Weise für den Moldawier vollends unsichtbar. Er konnte keinen Begleiter brauchen, wenn er nach Pierre suchte, um ihm gegen die Bluthunde der Dennevals beizustehen.
Malesky grinste. »Aha, Monsieur Chastel möchte allein auf die Jagd gehen?« Er stellte sich auf eine leere Kiste, die neben einer Bude stand, und hielt Ausschau nach Chastel oder den Hunden, denn wo sich eine der Parteien befand, wäre sicherlich auch die Bestie. So leicht schüttelte man ihn nicht ab.
Jean irrte im Gewirr der Zeltwände herum, ohne Vorstellung, wie er Pierre auf die Schnelle ausfindig machen konnte. Die Lage war alles andere als gut.
Verdammt, warum müssen die Normannen ausgerechnet jetzt auftauchen?, ärgerte er sich. Damit sanken seine Chancen, die Bestie, die schuld an allem Elend war, allein zu stellen und zur Strecke zu bringen. Wenn die Dennevals den Loup-Garou vor ihm erschossen, würden sie ihm kaum erlauben, sich eine große Menge Blut abzuzapfen, um daraus ein Gegenmittel für das Leiden seiner Söhne zu brauen. Er hatte das Rezept des Arztes sorgfältig verborgen, denn fände man es, wäre ihm eine Anklage wegen Hexerei sicher. Es würde aus dem Gerede über seine Abstammung die Gewissheit machen, die einem Gericht ausreichte, ihn zu verurteilen.
Obwohl Jean sich bemühte, es nicht nach außen dringen zu lassen: Das Geheimnis seiner Söhne belastete ihn schwer. Ständig lebte er in der Angst, dass man sie stellte und sie im Kugelhagel starben. Mehr als einmal war es knapp zugegangen. Er litt zudem unter schweren Gewissensbissen, da er sich an ihrem Morden ebenso schuldig machte, indem er sie deckte und nach Möglichkeit alles vertuschte. Aber niemand, niemand durfte die Wahrheit erfahren. Man hätte Antoine und Pierre auf der Stelle den Prozess gemacht und verbrannt, er selbst wäre wegen Mitwisserschaft hingerichtet worden. Nach der Vielzahl von Morden gäbe es kein Pardon. Und im schlimmsten Fall wäre die wahre Bestie nach dem Tod ihrer drei ärgsten Häscher noch immer unterwegs, tötend und die Saat des Bösen verbreitend.
»Monsieur Chastel, Ihr in Malzieu?«
Er schrak zusammen. Gehetzt und von grauenhaften Bildern geplagt, hatte er die Frau nicht bemerkt, die nun vor ihm stand. Und die er am wenigsten sehen wollte.
»Die Wege des
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