Ritus
bevor Lena klopfen konnte. Inzwischen kannte er ihren Geruch. Kein Parfüm – ihren eigenen, aufregenden, wunderbaren Geruch. »Kommen Sie herein.«
»Das Frühstück wartet schon«, ergänzte Anatol freundlich. Die Männer standen auf, als sie an den Tisch trat und sich setzte.
Sie sah in dem zu großen Morgenmantel wie ein kleines Mädchen aus. Die nassen Haare hatte sie kurzerhand mit einem Haargummi zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, unter dem Morgenmantel erkannte er blanke Haut. Sie roch frisch gewaschen und dennoch nach sich selbst.
»Guten Morgen.« Dankbar nickte sie Anatol zu. »Ich habe mir gewünscht, dass ich heute aufwache und feststelle, dass es ein Traum war«, sagte sie an Eric gewandt. »Aber die Schmerzen an meinem Rücken konnten es nicht abwarten, mir die Realität zu zeigen.« Sie nahm einen Schluck Kaffee, dabei fielen ihre Augen auf das Blatt. »Lycáon?«
Eric griff in die Hosentasche und legte ihr das Amulett vor den Teller. »Das habe ich bei einem von den Maskierten gefunden. Anatol war so freundlich und hat sich der Sache angenommen.« Er nahm sich von dem Tatar. »Sie kennen die Legende?«
»Der König wurde von Zeus in einen Wolf verwandelt«, sagte Lena nachdenklich.
»Wollen Sie ein paar Mythen zum Frühstück?« Eric würzte sein Tatar mit wenig Salz und kaum Pfeffer. »Lycáon war ein größenwahnsinniger Tyrann, der keinerlei Respekt vor den Göttern besaß und sich selbst Wolf nannte. Zeus stellte ihn zur Rede, doch Lycáon machte sich lustig über ihn und wollte einen Beweis dafür, einen Gott vor sich zu haben: Er wollte Zeus töten, und sollte Zeus überleben, wäre der König davon überzeugt, den Göttervater vor sich zu haben. Als Henkersmahl setzte ihm Lycáon seinen eigenhändig getöteten Sohn vor. Zeus bemerkte das Menschenfleisch und verurteilte den König dazu, fortan ein Wolf unter Wölfen zu sein. Als bösartiger Wolf musste er umherziehen, um seinen Blutdurst zu stillen.«
Lena gab sich Zucker in den Kaffee und beobachtete mit einem Schaudern, wie Eric, passend zur Geschichte, den Tatar genoss. »Die ganze Geschichte kannte ich nicht.«
»Der Werwolfglaube hängt wahrscheinlich auch mit Menschenopfern zusammen. Angeblich wurden sie bis ins vierte Jahrhundert vor Christus auf dem Gipfel eines Berges namens Lycáon zu Ehren des Königs der Wölfe dargebracht. Wer von dem Opferfleisch kostete, der wurde zu einem Wolf, der erst nach zehn Jahren seine alte Gestalt zurückbekam, sagt eine andere Legende.« Eric schob ihr die Marmelade rüber. »Sie mögen Süßes zum Frühstück, richtig?« Er bedankte sich bei Anatol mit einem Nicken, und der Mann verließ das Zimmer.
»Käse und Marmelade. Und zwar zusammen«, erklärte sie. »Nichts schmeckt besser.« Sie belegte sich ein Brötchen mit ihrer eigenwilligen Komposition. »Nachdem Sie und der vergangene Tag es geschafft haben, dass ich an Werwölfe glaube … erzählen Sie mir mehr darüber.«
»Sind Sie sicher, dass Sie mehr erfahren möchten, Lena?«
»Todsicher.«
Eric tupfte sich die Mundwinkel ab. Er bekam selten die Gelegenheit, sein Wissen zu teilen. »Wie ich schon sagte, der Ursprung des Werwolfglaubens lässt sich Jahrtausende zurückverfolgen. In fast allen Kulturen der Weltgeschichte finden sich Geschichten über die Verwandlung von Menschen in Tiere oder Aufzeichnungen über Mischwesen aus Mensch und Tier. Das beginnt in der Steinzeit, wo Schamanen in entsprechender Verkleidung den Geist des Beutetiers anriefen. Das machen die Inuit und Indianerstämme heute noch.« Er lehnte sich zurück, nahm seine Tasse und schaute aus dem Fenster über die Dächer von Petersburg. »Der Geschichtsschreiber Herodot schreibt von Völkern, die sich in Wölfe verwandelten. Odin hat laut der nordischen Mythologie seine Wölfe Geri und Freki um sich, und auch die alten Germanen kannten den Werwolf. Bei steinzeitlichen Ausgrabungen auf der Schwäbischen Alb hat man eine Tiermensch-Statue gefunden, die zwischen dreißig- und vierzigtausend Jahren alt ist.«
»Was schließen Sie daraus?«
»Dass sie mindestens so alt sind wie die Menschheit.«
»Aber woher kommen sie?«
»Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Tatsache ist, dass es Werwölfe gibt und sie nach den Verfolgungen im Mittelalter weitestgehend im Verborgenen leben. In der Schweiz, Südfrankreich, den Französischen Alpen, der Dauphine, in Savoyen, in Burgund und in Lothringen wurde ihnen im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert in Verbindung mit
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