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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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ich bringen.«
    »Aha, es gibt Suppe bei euch«, schloss er aus dem Auftrag und langte in seine Tasche. »Ich habe etwas für dich.« Er zwinkerte ihr zu.
    »Oh, wieder ein Tier?« Sie stellte den geflochtenen Korb auf den Boden und suchte in der Tasche ihres Kleides. »Seht, ich habe die anderen alle aufgehoben.« Marie zeigte ihm das halbe Dutzend geschnitzter Figürchen, das er ihr geschenkt hatte, zwei größere und vier kleine. »Die anderen sind deswegen alle neidisch auf mich«, gestand sie voll Stolz. »Und ich sage dann immer, dass Ihr sie mir gabt, Monsieur Chastel.«
    Er streichelte ihren Kopf und zog sein neuestes Werk hervor. Es war ein halb fertiger Vogel aus Buchenholz, etwa so groß wie Maries Handteller. »Ich schnitze ihn dir zurecht«, versprach er und packte sein Messer aus. Unter den wachsamen und erwartungsvollen Augen des Mädchens verlieh er dem Tier den letzten Schliff. Dünne Späne fielen, und das Holz gab mehr und mehr die Feinheiten preis. Derweil gingen die ersten Regentropfen auf sie nieder. Noch war es nur eine Warnung für das drohende Unwetter.
    »Eine Schwalbe!«, jubelte Marie, als sie den Vogel erkannte.
    »Eine Schwalbe«, bestätigte er, bohrte mit der Spitze des Messers ein kleines Loch, fädelte einen dünnen Lederriemen hindurch und reichte dem Mädchen sein Geschenk. »Gefällt sie dir?«
    »Sehr«, strahlte Marie und nahm den Anhänger ehrfurchtsvoll entgegen. Sie hängte ihn sich um und schlang die Arme um den Wildhüter. »Danke, Monsieur Chastel.«
    »Schon gut«, brummte er verlegen und schob sie weg. »Rasch, geh einkaufen. Sonst gibt es bei euch nichts zu essen, und du wirst klatschnass, bis du zu Hause angekommen bist.«
    Sie hob den Korb auf. »Es ist mir egal, was die Leute über Euch sagen, Monsieur Chastel. Ihr seid immer nett zu mir. Ihr seid mir der liebste Mensch, außer Maman und Papa.« Sie lief davon, winkte ihm vom Stand des Fleischers aus zu und reichte dem Mann den Korb.
    Jean verfolgte die Kleine mit gütigen Blicken, wie sie geschäftig über den Markt lief, und entdeckte dabei die Äbtissin. Sie verharrte neben der Auslage eines Gemüsehändlers, die weißen Hände vor dem Körper gefaltet, und hatte offenkundig seine Unterhaltung mit Marie beobachtet. Ihr Gesicht spiegelte ihre Überraschung. Mindestens die gleiche Überraschung, die er empfunden hatte, als er sie neben Yvette Chabrol sitzen sah. Je länger er sie betrachtete, umso mehr musste er an eine Heiligenstatue denken.
    Dann öffneten die Wolken ihre Schleusen und überschütteten Saugues. Fluchend raffte Jean die Pelze und Häute an sich und rannte unter ein Vordach. Die Äbtissin begab sich ebenfalls in den Schutz des Unterstandes, er aber tat so, als habe er sie nicht bemerkt. Stattdessen verstaute er kniend seine Ware im Rucksack. Er würde sowieso nichts mehr verkaufen.
    »Bonjour, Monsieur Chastel«, sagte Gregoria in seinem Rücken und machte es ihm unmöglich, sie weiterhin zu ignorieren. »Ihr wart vorhin nicht zufällig im Haus von Madame Chabrol?«
    »Nein.« Er stand auf und betrachtete sie. »Nicht zufällig.«
    Ihr schwarzer Habit war vom Regen getränkt und glänzte matt, teilweise schmiegte er sich an ihren schlanken Leib und zeigte mehr von ihrer Figur, als es für eine Äbtissin üblich war.
    »Ich habe sie rufen hören und wollte nachsehen. Ihr wart schneller als ich.«
    »Und warum habt Ihr nichts gesagt?«
    »Um die alte Madame zu Tode zu erschrecken? Nein, diese Aufgabe überlasse ich Prêtre Frick.«
    Ihre dunklen Brauen hoben sich, sie blickte vorwurfsvoll. »Dass Ihr Euch Mühe gabt, leise zu sein, ehrt Euch. Dass Ihr gelauscht habt, weniger.«
    Er lächelte, ohne dass er es wollte. »Vielleicht fürchtet Ihr, dass ich Eure Worte behalten habe? Die alte Madame hat sich doch vorher so schön gefürchtet, dank des fetten Pfaffen und seinem Gerede über die Hölle, die auf Sünderinnen wie sie wartet.«
    Gregoria räusperte sich. »Es hat Euch überrascht, dass ich nicht in die gleiche Kerbe schlug?«
    »Ja.«
    »Monsieur Chastel, Gott ist barmherzig. Wieso sollte er wollen, dass eine alte Frau, die auf der Schwelle zum Tod steht, ihre letzten Tage in Furcht erlebt?«
    »Ich sprach nicht von Gott. Ich sprach von Prêtre Frick«, verbesserte er. »Ihr erinnert Euch an meine Worte im Wald des Vivarais? Frick ist einer von vielen Gründen in der Soutane, wegen denen ich die Kirche verabscheue. Nun wisst Ihr auch, warum.«
    Sie hob den Kopf. »Ich verstehe Euch, Monsieur

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