Ritus
aufzurichten. Behutsam flößte Gregoria ihr Tee ein, Jean roch den Duft der Kamilleblüten bis zur Tür.
»Seht Ihr, es geht doch, Madame Chabrol«, sprach sie leise, aber aufmunternd. »Die Kräuter helfen gegen den Husten und werden Euch gut tun. Der Herr hat Euch mit hohem Alter gesegnet, und Ihr werdet noch einige in Saugues überleben, so Gott will. Aber achtet besser auch Euch. Deckt Euch in der Nacht zu.« Sie ließ Yvette zurück in die Kissen sinken. »Ich sehe nächste Woche wieder nach Euch. Morgen kommt Schwester Magdalena.«
Die alte Frau griff nach ihrer Hand. »Danke, ehrwürdige Äbtissin. Möge der Herr Euch für Eure Mühen belohnen«, keuchte sie.
»Ihr müsst mir nicht danken.« Gregoria schüttelte das verhüllte Haupt. »Ich tue es gerne, Madame Chabrol.«
»Aber Ihr habt sicherlich Besseres zu tun, als Euch einer Sterbenden zu widmen«, begehrte sie rasselnd auf. Ihre Lungen waren voller Wasser. Jean kannte das Geräusch. Er schätzte, dass sie höchstens noch ein oder zwei Tage zu leben hatte, und wagte nicht, auf sich aufmerksam zu machen. Wenn Yvette sich erschreckte, konnte ihr das den Tod früher bringen – und ihn selbst damit noch mehr in Verruf.
»Wer wird denn an einem so schönen Tag vom Sterben reden, Madame Chabrol?«, sagte die Äbtissin lächelnd und tupfte über die Stirn der Frau. »Lasst die Kräuter wirken. Ich bete für Euch, und Ihr werdet sehen, dass Ihr bald gesund und munter erwachen werdet.«
»Fahre ich ins Paradies, ehrwürdige Äbtissin?« Yvettes Stimme brach mehr und mehr. »Ihr müsst wissen, dass ich in meinen jungen Jahren nicht immer keusch gewesen bin.«
»Ich bete für Euch. Da Ihr Eure Sünden bekannt habt, werdet Ihr gewiss ins Paradies gelangen, Madame Chabrol. Doch vorher lebt lieber noch ein Weilchen.«
Jean sah genau, wie sich Gregoria mit einer schnellen Bewegung eine Träne aus dem linken Augenwinkel wischte. Sie wusste genau, dass Yvette in den letzten Zügen lag.
Die knöcherne Hand packte fest zu und quetschte die weiße Hand der Äbtissin. »Aber Prêtre Frick hat nach der Beichte gesagt, dass Gott nur die Seelen der Frömmsten aufnimmt, ehrwürdige Äbtissin.« Die alte Frau hatte offensichtlich Angst vor dem, was sie im Jenseits erwarten konnte.
»Seid ohne Sorge, Madame Chabrol.« Gregoria fuhr ihr beruhigend über die grauen Haare. »Gott liebt alle Menschen. Und nun erholt Euch.« Sie stand auf.
Jean drehte sich um und schlich hinaus. Er wollte nicht, dass sie ihn bemerkte.
Sein Bild von der Äbtissin war abrupt ins Wanken geraten. Niemals hätte er sie hier erwartet, und schon gar nicht, dass sie sich selbst um Yvette kümmerte. Oder dass ihr deren bevorstehender Tod nahe ging. Bislang hatte er sie als kühle Nonne von adliger Herkunft betrachtet, die sich wie alle anderen Klerikalen benahm. Was er sah und hörte, erstaunte ihn. Demnach konnte sie mehr als nur arrogant und von ihrem Glauben verblendet sein. Außergewöhnlich.
In Gedanken versunken, schritt er durch die Gassen bis zum Markt und breitete neben dem Brunnen seine Ware aus, ohne auf seine Umgebung zu achten. Es dauerte nicht lange, und die ersten Leute interessierten sich für seine Eichhörnchenpelze. Er handelte mit ihnen, ging aber nicht einen Sous im Preis herab.
Der Himmel zog sich zu, die Luft roch nach Feuchtigkeit. Der auffrischende Wind brachte dunkle Wolken mit sich, und in der Ferne erkannte Jean die grauen Schleier, die aus dem Himmel auf die Erde hingen. Regen ergoss sich auf Berge und Wiesen.
»Bonjour, Monsieur Chastel«, hörte er ein Mädchen unvermittelt neben sich grüßen.
Er wandte sich ihr zu. »Ah, bonjour, Marie Denty.« Er ging in die Hocke und reichte ihr die Hand. Sie lächelte und strahlte ihn aus ihren großen, braunen Augen an. Sie trug ein grobes Leinenkleid und eine weiße Haube über den dunkelblonden Haaren. Der Korb, den sie bei sich hatte, war fast so groß wie sie. »Oh, du wächst und wirst immer hübscher«, neckte er, und sie lachte. »Bekommst du schon viele Heiratsanträge?«
»Ich bin doch erst zehn Jahre«, wehrte sie verlegen ab.
»Erst zehn Jahre?« Jean schlug gespielt überrascht die Hände über dem Kopf zusammen. »Incroyable, du siehst aber aus wie eine kleine Madame.« Er kitzelte sie am Bauch, und sie lachte in ihrer unbeschwerten Art. Sein Herz erfreute sich an dem Klang. »Hat dich deine Maman geschickt?«
»Ja, Monsieur Chastel.« Sie deutete auf die Stände um ihn herum. »Gemüse und Rauchfleisch soll
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