Ritus
Chastel. Es war nicht rechtens. Auch wenn es mir nicht zusteht, einen Prêtre zu maßregeln oder zu kritisieren, so werde ich ihn dennoch darauf ansprechen.«
Jean hatte sich auf das nächste Rededuell eingestellt und wurde von ihrem Einlenken überrumpelt. Er konnte nichts sagen, außer: »Ihr … Seid Ihr allein in Saugues?«
»Nein. Die anderen Schwestern sind in den Häusern der Kranken unterwegs. Unser Kräutergarten hält Heilung für viele Dinge bereit.« Gregoria streckte die Hand aus und hielt sie in den Regen. »Ihr könnt sehr gut mit Kindern umgehen, Monsieur Chastel.«
»Ihr habt mich beobachtet?«
»So wie Ihr mich beobachtet habt.« Der Wind peitschte den Regen durch die Gassen. Sie hielt den Blick auf die Häuserfronten gerichtet, an denen das Wasser herab lief. »Kennt Ihr die Kleine gut?« Sie zog den Arm zurück und schüttelte das Wasser von der Hand.
»Sie heißt Marie Denty. Ihr Vater und ich gingen oft gemeinsam auf die Jagd. Das änderte sich, als ich meine Frau pflegen musste.« Er sah zu der Stelle, wo das Wasser die Holzspäne packte und langsam über den aufweichenden Boden trug. »Sie ist wie eine Tochter für mich. Und es ehrt mich, dass ihre Eltern mir ihr Vertrauen schenken.«
»Ich kenne das Gerede über Euch, Monsieur Chastel. Und ich gestehe, dass ich versucht war, ihm Glauben zu schenken, nachdem wir uns das erste Mal gegenüberstanden.« Sie nickte ihm zu. »Aber heute erkannte ich, dass nichts Wahres daran sein kann. Gott wird mir meinen Fehler vergeben. Und Euch für Eure Anteilnahme danken, die Ihr Madame Chabrol zeigt.« Sie schwieg einen Moment. »Ihr wisst, dass die Dennevals Fragen über Euch und Eure Familie stellen? Sie erkundigen sich vor allem über Euren Sohn Antoine und seine Hunde.«
»Ich weiß nicht, was Ihr meint.«
»Sie kamen zu mir ins Kloster und fragten mich, weil ihnen die anderen Leute keine Auskunft mehr geben wollten, sobald sie den Namen Antoine Chastel hörten. Das finden die Dennevals … merkwürdig«, sprach Gregoria weiter. »Ist Euch bekannt, dass Euer Sohn von den meisten nur der Mann genannt wird, weil man sich davor fürchtet, seinen Namen zu nennen?«
»Ich weiß«, presste Jean mühsam hervor. »Er war nicht immer so seltsam. Ich … ich erkenne ihn selbst manchmal kaum wieder. Die Fremde hat ihn verändert.«
»Achtet auf ihn, Monsieur Chastel«, riet sie ihm besorgt. »Und das sage ich nicht nur wegen meines Mündels. Es ist zu hören, dass der König wütend ist und nach über sechzig Toten, und vierzig Verletzten Erfolge sehen möchte. Die Normannen haben es auf Antoine und seine Hunde abgesehen. Es wäre einfach, sie als die Bestie zu präsentieren.«
Jean nahm den Rucksack, nickte ihr zu und flüchtete in den Regen. Er war es nicht gewohnt, dass man so freundlich mit ihm sprach, und von der Äbtissin hatte er erst recht keine Warnung erwartet. Sie verwirrte ihn und machte es ihm schwer, sie wie die anderen Pfaffen zu hassen.
Gregoria sah dem Wildhüter nach, der durch den Schlamm davoneilte und Saugues mit ein paar Münzen in der Tasche verließ. Sie hatte die kleinen Holzfigürchen gesehen, die auf dem Tisch der alten Yvette standen. Es war unstrittig, wer sie anfertigte.
Mit einem Mal blitzte in ihr ein Gefühl auf, das Gelübde und Stand ihr verboten. Sie rang es auf der Stelle mit einem Gebet nieder; ihre nassen Finger jagten über die Perlen des Rosenkranzes. Es durfte niemals mehr als Nächstenliebe für einen anderen Menschen in ihrem Leben geben.
Niemals wieder.
XIV.KAPITEL
Russland, Sankt Petersburg, 14. November 2004, 10:33 Uhr
Anatol legte Eric beim Frühstück einen Ausdruck vor. Er hatte die Fotos des Medaillons vergrößern lassen.
»Was haben Sie darüber herausgefunden, Anatol? Ach, lassen Sie mich selbst sehen«, meinte Eric, legte sein Croissant beiseite und griff danach. Er studierte die Vergrößerung eine Weile und übersetzte: »Göttlicher Lycáon, König von Arkadien, Herrscher aller Wölfe.«
Anatol schaltete sich ein und deutete auf die Symbole. »Vermutlich stehen die Zeichnungen stellvertretend für die Qualitäten Arkadiens: die Flöte für den Gott Pan, der Fluss müsste der Styx sein, der angeblich durch Arkadien floss, und die Berge stehen für die vorherrschende Landschaft.«
Eric reinigte seine Brille mit einer Serviette, sah sich die Abbildungen genauer an und schrieb die Übersetzung groß auf das Bild. »Lycáon und Arkadien, so, so.« Dann drehte er sich zur offenen Tür,
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