Ritus
umzusteigen!«
»Aber Sie sagen selbst, dass nicht alle von ihnen schlecht sind?«
»Nicht immer.« Eric seufzte und bemühte sich um Ruhe. Plötzlich sehnte er sich nach seinen Tropfen. »Wenn Sie sich näher mit der Mythologie der verschiedenen Länder beschäftigen, werden Sie erkennen, dass Werwesen in manchen Kulturkreisen sogar als heilige und durchaus gute Wesen verehrt werden.«
Lena schenkte sich Kaffee nach. »Sind Sie so einem freundlichen Werwesen schon mal begegnet?«
»Nicht dass ich wüsste.« Er zögerte. »Ich … ich mache keine Unterschiede, wenn mich eines von den Biestern angreift. Es gibt keine Kuschelwerwölfe.« Einen Moment lang breitete sich betretenes Schweigen zwischen ihnen aus. Schließlich brach Eric die Stille mit einem Lächeln. »Aber um auf Ihre Fragen nach den Wer-Meerschweinchen zurückzukommen: Es soll harmlose Lykantrophen geben, die sich in Rehe oder Seekühe …«
Lena prustete los und spuckte ihren Kaffee aus. »Seekühe?«
»Seekühe«, bestätigte er gespielt ernst. Gebannt verfolgte er den Weg eines schwarzen Kaffeetropfens, der ihren Hals entlang über die Brust unter den Bademantel rann. Er beneidete ihn. »Sie verwandeln sich in Seekühe. Aber die sind mir noch nicht untergekommen. Ich treffe immer nur auf die Schlimmsten von ihnen.«
»Würden Sie eine Wer-Seekuh umbringen?«
Es gab kein Zaudern, als er erwiderte: »Ja.«
»Wieso?«
»Sie könnte ein Ausflugsboot angreifen.«
Lena fixierte ihn ungläubig und merkte erst nach fünf Sekunden, dass er sie aufgezogen hatte. Sie lachte schallend, und Eric lächelte glücklich.
»Mit den harmlosen, sofern sie existieren, hätte ich wahrscheinlich keine Schwierigkeiten. Ich begegne aber immer denen, die abgrundtief verdorben sind und nach Steigerung ihrer Taten trachten. Sie lieben es, Menschen zu reißen, auch ohne den Hunger, dem sie hilflos ausgeliefert sind. Sozusagen die echten Psychopathen unter den Werwesen. Ich empfinde kein Mitleid mit ihnen.« Er legte das Blatt und den Stift zur Seite.
»So einen haben Sie gemeint, als Sie davon sprachen, dass eins der Wesen keinen Fehler begeht«, mutmaßte sie und genoss den süßherzhaften Geschmack von Gouda und Erdbeerkonfitüre auf der Zunge.
Eric zollte ihr stummen Respekt, was ihre Aufmerksamkeit anbelangte. »Ja, Sie haben Recht. Dieses Wandelwesen ist ein Hybrid, ein Bastard, eine Kreuzung aus verschiedenen Werwesen. Es beherrscht den Trieb und weiß ihn zu nutzen. Gehen Sie davon aus, dass auch der Mensch, in dem es steckt, eine echte Bestie ist: rücksichtslos, grausam, zu allem bereit. Die Jagd auf dieses Wesen hat Priorität vor allen anderen.«
»Und das macht Ihre Familie seit über zweihundert Jahren?«
»Ja.«
Sie schwieg eine Weile. »Gibt es noch andere Jäger außer Ihnen?«
Eric legte den Kopf ein wenig schief. »Meine Familie war seit jeher allein, abgesehen von ein paar eingeweihten treuen Helfern. Es kann dennoch sein, dass es mehr Menschen wie mich gibt. Ich weiß es nicht. Ich habe noch keinen getroffen.«
Lena schluckte schwer. Sie erkannte eine große Melancholie, eine Einsamkeit in den Augen Erics, wie sie sie noch bei keinem anderen Mann gesehen hatte. »Ihr Job … Ihre Aufgabe isoliert Sie ziemlich.«
Er bleckte die Zähne und strich sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht, die über das linke Brillenglas baumelte und seine Sicht beeinträchtigte. »Sie sind die erste Frau, die mich beim Frühstücken sieht.«
Sie sah ihn verwundert an.
»Es ist schwierig, jemanden zu finden, der dafür Verständnis hat, dass man ständig reist und scheinbar harmlose Menschen erschießt.«
»Harmlose …?«
»Erinnern Sie sich, Lena. Sie haben den erschossenen Nadolny vor sich auf dem Boden liegen sehen, nicht den Werwolf. Die Bestie verschwindet, wenn die Menschenseele … in den Himmel einzieht.«
»Sie glauben, dass die Seele eines solchen Mörders in den Himmel kommen kann?«, fragte Lena skeptisch.
»So erkläre ich es mir«, Erics Stimme klang fast entschuldigend, »um wenigstens etwas Tröstliches daran zu finden.« Er lehnte sich zur Seite. »Im lebendigen Zustand können sie sich verwandeln, wann immer sie möchten. Nur der Vollmond zwingt sie dazu, an drei aufeinander folgenden Nächten ihre Wolfsgestalt anzunehmen. Das sind die Stunden der Wahrheit, die sie fürchten und lieben. Im Allgemeinen bevorzugen sie es, in der Tiergestalt umherzustreifen, aber wenn es zum Kampf kommt, wechseln viele von ihnen in das Zwischenstadium.
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