Ritus
Hexerei-Prozessen nachgestellt. Glaubt man den alten Aufzeichnungen, richteten die Werwölfe in Preußen, Livland und Litauen im sechzehnten Jahrhundert mehr Schaden an als natürliche Wölfe. Das hat sie auf die Abschussliste gebracht, bis das Interesse im neunzehnten Jahrhundert nachließ, und im zwanzigsten Jahrhundert glaubte niemand mehr an sie. Schöne moderne, rationale Welt. Das macht es einfacher für sie.«
»Es gab Prozesse?« Lena konnte kaum glauben, was sie hörte.
»Sicher. Da gab es beispielsweise den Fall Steffen Klöne, der 1590 in Soest hingerichtet wurde. Er nannte dem Gericht noch zwei weitere Männer, die sich mit ihm verwandelt hätten. Als Verwandlungsmittel diente neben einer Tierhaut ein Seil, das mehrmals um den Körper geschlungen wurde.« Eric überlegte. »Einige der unschönen Details sind mir entfallen. Früher kannte ich mich besser damit aus, und mein Vater hätte Ihnen die gesamten Akten zu den Prozessen auswendig vortragen können. Gut, die meisten Geständnisse wurden unter der Folter erzwungen, und darum geht man heute davon aus, dass damals Unschuldige sterben mussten. Vielfach war es auch so. Aber wenn man die erhaltenen Protokolle richtig zu deuten weiß, dann sieht man, dass es auch hunderte Werwesen erwischt hat.« Er stellte seine Tasse ab. »Ich will Ihnen etwas zeigen.« Er verschwand und kehrte bald mit einem Ordner zurück, schlug ihn auf und legte ihn vor sie. »Das ist eine nette Sammlung. Lesen Sie, wenn Sie Lust haben.«
Eric setzte sich wieder auf seinen Platz. Während Lena zu blättern begann, nahm er sich ein Blatt und einen Stift. Er sah sie genau an, dann huschte die Spitze über das Papier.
Lena blieb an einem Fall hängen, der sich 1598 in der Nähe von Paderborn zugetragen haben sollte. Das altertümliche Deutsch bereitete ihr Probleme beim Lesen, aber dennoch kam sie dem Sachverhalt auf die Spur. Ein Mann, den man bezichtigte, sich mittels eines Gürtels in einen Wolf zu verwandeln, war grausam hingerichtet worden: Man hatte ihm bei lebendigem Leib den Bauch aufgeschnitten, das Herz herausgenommen und es ihm in den Mund gestopft. Der Körper war in vier Stücke geteilt und zu Asche verbrannt worden. Mit dem Kopf machten die Paderborner etwas ganz Besonderes. Sie rösteten ihn an, setzten ihn zum »Abscheulichen Exempel« mit einer eisernen Stange auf ein Rad und befestigten einen hölzernen Wolf darunter.
Lena kaute langsamer, schlug Seite für Seite um und konnte nicht fassen, was sich einst in Europa zugetragen hatte. Oft traf das Urteil Hirten, Geistesschwache oder Bettler, selten ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Der Verdacht lag nah, dass die Prozesse doch nur ein Weg gewesen waren, um unliebsame, rechtlose Menschen aus dem Weg zu räumen. Noch viel erschreckender aber als die Aufzeichnungen über die Prozesse und Hinrichtungen waren die Berichte über die Gräueltaten, die den Bestien angelastet wurden. »Warum töten sie Menschen?«, fragte sie, nachdem sie den Bericht über ein regelrechtes Massaker gelesen hatte. »Ja, ich weiß, Lycáon wurde von Zeus verflucht … aber reden wir von den Wesen, wie Nadolny eins gewesen ist, den wirklichen Werwesen. Warum hassen sie die Menschen?«
Eric zeichnete weiter und überlegte lange, ehe er antwortete: »Hass ist es nicht unbedingt. Die Motivation ist tatsächlich ihr Hunger. Um ehrlich zu sein, ich halte die meisten nicht für prinzipiell schlecht, so wenig wie man einem Raubtier einen Vorwurf machen kann, wenn es seinen Instinkten folgt und tötet. Aber es sind Raubtiere, welche vor allem die Menschen bedrohen. Und sie können Unschuldige infizieren. Also sind sie fällig.«
»Eine einfache Rechnung«, sagte sie mit einem sarkastischen Unterton. Als Wolfsforscherin kannte sie diese simple, radikale Argumentation sehr gut. Oft genug hatte sie mit Schafzüchtern diskutiert, die mit ihrem Gewehr auf eigene Faust gegen Wölfe vorgingen, obwohl sie es nicht durften. Nüchtern betrachtet büßten die meisten von ihnen mehr Tiere durch Unfälle als durch Wölfe ein. Lena ertappte sich dabei, wie sie beinahe Sympathie für die Werwesen empfand … aber auch nur beinahe.
»Es macht mir keinen Spaß, sie zu töten«, erklärte Eric aufbrausend. »Aber was soll ich tun? Mit ihnen reden und sie bitten, dass sie aufhören, Menschen zu fressen oder den Fluch weiterzugeben?« Seine Reaktion fiel heftiger als gewollt aus. »Diese Entzugsklinik möchte ich sehen, die den Bestien beibringt, auf Gemüse
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