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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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drohte. »Ich bin fertig mit Gott.«
    Sie schaute ihm in die Augen, freundlich und dennoch forschend, als könnte sie darin lesen. »Weshalb, Monsieur Chastel?« Sie beugte sich vor. »Lassen wir Prêtre Frick einmal außen vor. Ich stellte Euch die Frage bereits in Malzieu, bevor wir unterbrochen wurden. Gott tut niemandem etwas.«
    Er biss die Zähne zusammen. »Eben«, sagte er verächtlich. »Gott tut niemandem etwas, auch nichts Gutes. Wie sonst konnte er zulassen …« Er stockte.
    »Was konnte er zulassen, Monsieur?«
    »Nein. Lasst es gut sein.« Jean schüttelte den Kopf, wehrte sich innerlich dagegen, seine Zweifel vor ihr zu offenbaren. Doch etwas brachte ihn schließlich dazu, weiter zu sprechen. Seit seiner Beobachtung und ihrer Unterhaltung in Saugues stellte er die Äbtissin nicht mehr mit den anderen Vertretern der Kirche auf eine Stufe. »Ihr wollt es tatsächlich wissen? Nun, es ist schwierig, an den Gott der Liebe zu glauben, wenn man tagtäglich Unrecht sieht, gegen das er nichts unternimmt. Wo ist der Gott der Gerechtigkeit, wenn man ihn benötigt? Wann straft er die Gierigen und Falschen? Was nützt es der Welt, wenn er im Jenseits richtet und nicht auf Erden?« Ohne es wirklich zu wollen, wurde er feindselig. »Ihr verkündet sein Wort, Äbtissin. Wie gelingt es Euch, daran zu glauben, was Ihr den Menschen erzählt?« Er deutete zum Fenster hinaus. »Ihr kennt Frick. Habt Ihr gesehen, wie edel er und die Pfaffen hausen? Welche Reichtümer sie horten und wie sie von den Bauern Gaben für die Kirchen verlangen, Zehnte eintreiben, um sich selbst die Scheunen und Dachböden zu füllen?« Er lehnte sich nach vorn, seine kräftige Hand krachte auf die Seiten des Wirtschaftsbuchs. »Und was ist mit Eurem Kloster? Was geschieht mit dem Geld, das Ihr einnehmt? Hortet Ihr die Louisdor in der Klosterkirche, oder tragt Ihr Unterwäsche aus gesponnenem Gold?«
    Gregoria blieb ruhig. Sie hatte fast erreicht, was sie bezweckte, und der laute Ausbruch zeigte, dass sie tiefer zu ihm vorgestoßen war als je ein Geistlicher vor ihr. Sie hörte die Trauer und die Verbitterung in seiner Stimme. Die Wut über die Verhältnisse und Lebensweisen mancher Kleriker war oberflächlich. Da war noch etwas anderes, ein besonderes Ereignis in seinem Leben, weswegen er sich vom Kreuz abgewandt hatte. Sie erinnerte sich an eine Bemerkung von ihm.
    »Ihr spracht davon, dass Ihr Eure Gemahlin pflegtet. Demnach ist sie gestorben, und dabei hattet Ihr Gott angefleht, sie zu heilen, ihr beizustehen bei ihrer Krankheit«, sprach sie leise und Anteil nehmend und legte dabei ihre Linke auf seine Hand, die noch immer auf dem Buch verharrte.
    Jean schwieg. Er biss die Zähne zusammen, konnte aber nicht verhindern, dass ihn Wut und Aufgebrachtheit mit einem Mal verließen. »Sie lag … sie lag ein Jahr lang im Fieber«, flüsterte er schließlich. Es nahm ihn sehr mit, dass die erschütternde Erinnerung, die er so tief in sich vergraben wähnte, emporstieg und lebendig wurde. »Aus der stolzen, bewundernswerten Frau, die mir Kinder gebar und in unerschütterlichem Glauben an Gott lebte, wurde ein Schatten ihrer selbst, während die Priester bei uns ein und aus gingen und ihre Gebete und Fürbitten herunterleierten, solange ich genügend Livres spendete.« Seine Augen wurden feucht.
    Berührt sah Gregoria, wie eine Träne langsam über das sonst so grimmige Gesicht des Mannes rollte. Als sie sein ungelindertes Leid sah, empfand sie aufrichtiges Mitgefühl.
    Jean rang um Fassung. »Als das Geld ausblieb, sah man nichts mehr von der feinen Geistlichkeit. Auch Gott, zu dem sie täglich betete, schwieg. Anne … sie starb viel zu jung, und meine Kinder und ich blieben allein.« Es war der letzte Satz, den er mit brüchiger Stimme hervorbrachte, dann weinte er wie ein kleines Kind.
    Gregoria wusste zunächst nicht, was sie tun sollte. Der raue, abweisende Jean Chastel, den stets etwas Majestätisches und Kraftvolles umgab, weinte! Wieder erfuhr das Bild, das sie von ihm hatte, eine Wandlung.
    Zögernd stand sie auf, ging zu ihm, barg seinen Kopf tröstend an ihrem Bauch und fuhr sanft über seine Haare. Sie ahnte, dass er sich seit Jahren niemanden mehr so anvertraut hatte – vielleicht tat er es zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau.
    Jean ließ die Muskete fallen, schlang seine kräftigen Arme um ihren Körper und suchte ihre Geborgenheit, ihre Wärme.
    Gregoria erschrak. Schon lange war sie so von keinem Mann mehr so berührt worden.

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