Ritus
wimmeln. Und warum?« Der Druck seiner Finger wurde stärker. »Weil die Wolfsforscherin und Soziobiologin Magdalena Heruka einen Preis abstauben wollte.«
Lena verschlug es die Sprache. Die Wildheit in den Augen Erics, die pure Kraft brachten sie zum Schweigen und ließen sowohl die Saat der Furcht als auch der Faszination in ihr keimen.
Eric wurde sich drüber bewusst, dass er ihr Angst einjagte, und gab sie frei. »Glauben Sie mir, es ist besser, wenn sich der Hass der Wandelwesen auf mich konzentriert statt auf die anderen sechs Milliarden Menschen.« Er schritt schnell an ihr vorbei. »Ich nehme Sie mit nach Plitvice. Dann kann ich wenigstens auf Sie aufpassen«, sagte er von der Schwelle aus. »Geben Sie Anatol Ihre Kleidergröße. Er wird Ihnen etwas Passendes besorgen.«
Lena sah Eric lautlos hinter der Tür verschwinden, ihre Linke rieb den klopfenden Oberarm. Der Blick in die seltsamen Augen des Mannes hatte ihre Seele berührt, Gefühle angestoßen und sie zum Nachdenken gebracht. Sie fühlte sich … unsicher.
Das wurde nicht besser, als sie drei Stunden später in der Maschine nach Zagreb saßen.
XV.
KAPITEL
11. Juni 1765, in der Umgebung von Auvers, Kloster Saint Gr égoire, Südfrankreich
Jean Chastel konnte nicht glauben, dass er es tatsächlich getan hatte: Er war freiwillig an jenen Ort gekommen, den er vor nicht allzu langer Zeit Nonnenkarzer genannt hatte.
Natürlich gab es einen Anlass für seinen Besuch in Saint Grégoire – er musste herausfinden, ob Antoine immer noch heimlich vor dem Kloster lauerte. Das war wichtig. Und doch hatte Jean den Verdacht, dass es einen weiteren Grund gab, warum er plötzlich keine Abneigung mehr bei dem Gedanken empfand, die Äbtissin wieder zu sehen – etwas, das er sich selbst noch nicht eingestehen wollte.
Er wartete im Inneren der Klosteranlage neben dem gedrungenen Steinhaus, in dem die Pilger und Gäste untergebracht wurden. Daneben schloss sich die kleine Käserei an, wie er an dem Geruch, der aus den schmalen Fenstern strömte, erkannte. Im ersten Stockwerk befand sich die bescheidene Werkstatt der Schwestern, wo für den eigenen Bedarf gewoben und geschneidert wurde; er hörte das Klappern der Scheren, die Geräusche von Spinnrädern und sah, dass einige Nonnen große Garnrollen aus der Tür trugen.
Trotz der Betriebsamkeit, die in den Mauern herrschte, fühlte Jean eine gewisse Art von Frieden, die auf ihn übergriff. Sein Blick schweifte zur eindrucksvollen Klosterkirche mit dem Kreuzgang. Um diese gruppierten sich weitere Gebäude.
»Monsieur?« Eine Nonne hatte sich ihm unbemerkt genähert. »Ich darf Euch zur ehrwürdigen Äbtissin bringen.«
Er folgte ihr, vorbei an einem großen Kräutergarten, zu einem frei stehenden Haus, das sich ein Stück abseits des Dormitoriums befand. Sie führte ihn durch die Tür hinein ins Arbeitszimmer und wies ihn an zu warten.
Die Regale aus hellem Birkenholz standen voller Bücher. Den Abkürzungen nach zu schließen, handelte es sich dabei um die Wirtschaftsfolianten des Klosters. Die Jahreszahlen auf den Einbänden reichten mehr als vierhundert Jahre zurück. Die Nonnen hatten sich offensichtlich die Mühe gemacht, die alten Aufzeichnungen abzuschreiben, um einen lückenlosen Überblick zu erhalten.
Jean wanderte in dem Raum umher und bemerkte, dass sich an den nackten, grauen Wänden kein weltlicher Schmuck befand. Lediglich ein großes Kruzifix, ein Bild des heiligen Gregorius und eine Marienstatue durchbrachen die farbliche Monotonie der Granitsteine.
Auf dem Tisch der Äbtissin lagen Schreibzeug sowie penible Aufzeichnungen. Er sah Zahlen über den Verbrauch von Garn, den Verkauf von Käse und einen offenen Jahreskalender, in dem ein Tag angestrichen war. Der 24. Mai.
Seine Neugier erwachte.
Der Besuch des Marktes … oder der Überfall?
Jean lauschte, ob sich Schritte näherten oder ob er unbeobachtet einen näheren Blick riskieren konnte. Er umrundete den Tisch und blätterte die Seiten um.
Zu seiner Überraschung fand er sämtliche Tage, an denen sich Attacken der Bestie ereignet hatten, sorgsam markiert. Sogar die Namen der Orte, wo sich das Grauen zugetragen hatte, waren eingetragen worden. Auch die letzten Angriffe vom 1. Juni.
Welches Interesse hat sie daran?
Jean erinnerte sich plötzlich daran, wie sie sich zum ersten Mal begegnet waren – im Wald bei Viviers, kurz vor dem Tod des Loup-Garou und dem Auftauchen des zweiten. Und später war sie auch in Malzieu gewesen
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