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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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Seine Nähe weckte Erinnerungen an ihr altes Leben. Erinnerungen, denen sie sich ihrerseits seit vielen Jahren nicht mehr gestellt hatte.
    »Monsieur Chastel …« Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.
    »Als Antoine aus der Ferne zurückgekehrt war und seine … seine Neigungen zunahmen, sagten die Pfaffen mir, es sei eine Prüfung des Herrn«, schluchzte er gegen ihren Leib. »Eine Prüfung! Haben meine Söhne und ich wirklich eine weitere Prüfung nötig?« Er schaute entrückt zu ihr auf, die Augen feuerrot vom Weinen. »Versteht Ihr, dass ich auf einen solchen Gott verzichten kann?«, raunte er.
    Mit einem Mal wurde ihm bewusst, wen er umklammerte, löste seine Hände von ihr und schrak zurück. »Verzeiht mir. Ich war nicht …« Er sank gegen die Lehne und zitterte noch immer unter dem Eindruck dessen, was nach jahrelanger Unterdrückung aus seinem Inneren herausgebrochen war. »Ich war nicht bei mir.«
    Gregoria musste tief einatmen; der Druck von Jeans Armen hatte ihr die Luft geraubt. Oder war es die Nähe des Mannes gewesen? Sie lehnte sich an den Arbeitstisch. »Nein, Monsieur Chastel«, sagte sie stockend und hoffte, dass sich ihr wild pochendes Herz beruhigte. »Ihr wart sehr wohl bei Euch, und Ihr habt Euch endlich alles von der Seele geredet, was Euch belastete. Ich …«
    Ein eigentümliches Schweigen senkte sich herab.
    Als die Glocke der Klosterkirche hell und laut schlug, fuhren die beiden wie ertappte Sünder zusammen.
    »Ich muss zum Mittagsgebet«, entschuldigte sich Gregoria, riss sich von Jeans Anblick los und eilte zur Tür. »Wenn Ihr über Euren Kummer reden möchtet … Ihr wisst, wo Ihr mich findet. Der Herr segne Euren Weg und lasse Euch die Wahrheit finden.« Sie verschwand durch die Tür hinaus.
    Das Gefühl der Benommenheit wich von Jean, die Bilder aus der Vergangenheit verblassten zusehends und verloren ihre Kraft. Er seufzte tief – und fühlte sich unendlich erleichtert. Es hatte ihm gut getan, mit ihr zu sprechen. Er hob die Muskete und den Dreispitz auf, wobei sein Blick durch das Fenster hinaus auf den Platz fiel, über den die Äbtissin mit großen Schritten lief. Es hatte gut getan, sie umschlungen zu halten.
    Was geht mit mir vor? Was macht dieses Kloster mit meinem Verstand?
    Als Jean sich zum Gehen wandte, fiel ihm der Zettel auf, der aus Gregorias Kalender gefallen war. Er bückte sich, um ihn aufzuheben und auf den Tisch zu legen. Dabei entfaltete sich das Blatt von selbst.
    Die Handschrift und die Zeilen kannte Jean nur zu gut.
    Er besaß die gleiche Abschrift, die er sich für viel Geld gekauft hatte.

XVI.
KAPITEL
    Ungarn, Budapest, 15. November 2004, 18:43 Uhr
     
    Eric und Lena saßen in Budapest fest. Das lag an verschiedenen Faktoren, angefangen bei dem schlechten Wetter über den Streik der Fluglotsen bis hin zu einer handfesten Erkältung, die sich die Wolfsforscherin eingefangen hatte und die auskuriert werden wollte.
    Also hatte Eric ihnen ein Doppelzimmer besorgt, in einem netten Hotel auf der Pester Seite der ungarischen Hauptstadt, und sich auf den Weg gemacht, um Lena Medikamente zu besorgen. Außerdem musste er an die frische Luft, um nachzudenken.
    Der Gang durch die verschneiten baumreichen Boulevards und die weiten Plätze von Pest beeindruckten Eric, und das war nicht einfach. Dazu war er zu oft Gast in fremden Städten gewesen.
    Diese Seite am flachen östlichen Ufer der Donau bestach durch ihre Vielfalt an herrlichen Kaffeehäusern, den Kávéház, von denen einige zu echter Berühmtheiten gelangt waren, darunter das Gerbeaud, in dem noch immer die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts lebte. Die eleganten Innenräume, die er von außen sah, hatten schon Kaiserin Sisi gefallen. Eric bezweifelte allerdings, dass sie wirklich einen der leckeren Kuchen gekostet hatte – bei der dürren Figur.
    Im Vorbeigehen betrachtete er die Erzébet híd, die Elisabethbrücke. Sie war eine der sechs Brücken, welche die Stadtteile Buda und Pest miteinander verbanden. Im Scheinwerferlicht sah sie eindrucksvoll und majestätisch zugleich aus; die Realität verblasste und machte die Vergangenheit der Österreich-ungarischen Monarchie wieder lebendig. Mit ein wenig Vorstellungskraft hielt man sogar die vereinzelten Sisi-Doubles für echt – Werbeträger des städtischen Tourismusbüros, die Handzettel an die wenigen flanierende Gäste verteilten, die wie Eric dem dicht fallenden Schnee trotzten. Das Gesicht einer solchen Doppelgängerin nahm vor Erics innerem

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