Rivalen der Liebe
viel Macht er über sie hatte.
Aber in der hintersten Ecke seines Verstands fragte Roxbury sich, warum sie einander noch nie zuvor begegnet waren. Seit Jahren gingen sie zu denselben Bällen, sie redeten mit denselben Leuten und tanzten dieselben Walzer. Er dachte an all die Abende, an denen ein Kuss von Lady Julianna zweifellos eine süße Belohnung gewesen und nicht von seinem Wunsch nach Rache beseelt worden wäre. Er spürte sogar, wie ihn gewisse Gefühle übermannten, und die hatten hier nun wirklich keinen Platz, wenn er diese Teufelin doch eigentlich voller Wut küsste. Er wollte nicht den Hauch einer Zuneigung für diese Frau empfinden, die seine Welt mit nur wenigen Worten so gründlich zerstört hatte!
Lady Somerset gab sich ihm hin, das spürte er. Doch er verspürte keine vollkommene, triumphierende Befriedigung, denn er drohte ebenfalls, ihrem Zauber zu erliegen.
Das war natürlich der Moment, in dem er den Kuss gewaltsam unterbrach und nicht besonders sanft einen Schritt zurück machte, als würde es Gefahr bedeuten, sie noch länger zu berühren.
Julianna stolperte rückwärts gegen den eingetopften Farn und schaffte es mit Müh und Not, das Gleichgewicht zu bewahren. Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen und blickte Roxbury fragend an. Das Mondlicht ließ seine Wangenknochen noch höher wirken. Seine Augen waren schwarz, und er lächelte sie triumphierend an.
Das ist also nicht nur irgendein Wüstling , dachte Julianna, sondern einer von denen, die zudem noch geübt und herzlos sind . Beinahe hätte sie sich von ihm verleiten lassen, sich und ihre guten Manieren zu vergessen … Und sie hatte keinen Zweifel daran, dass er bis zum Letzten gegangen wäre, und sei es nur, um ihr eine Lektion zu erteilen. Um ihr zu zeigen, welche Macht er über sie hatte. Weil er es konnte.
»Ich will eine Entschuldigung und eine Gegendarstellung in der nächsten Ausgabe«, forderte er. Seine Stimme klang ein wenig zu rau, um vollkommen souverän zu wirken.
Es dauerte nur eine Sekunde, bis Julianna verstand, was er da von ihr verlangte und was die richtige Antwort darauf war.
»Nun gut, Roxbury«, sagte sie und lächelte, weil sie sich auf das freute, was sie schreiben würde. Glaubte er allen Ernstes, mit einem leidenschaftlichen, verbotenen Kuss bereits gewonnen zu haben? Beinahe hätte er das auch – und das war in ihren Augen unerträglich und gefährlich –, sie musste in Zukunft unbedingt besser auf sich Acht haben.
Roxbury dachte, er habe Macht über sie. Dass sie wie alle anderen Frauen bereit wäre, ihre Würde einzutauschen gegen ein bisschen Zuneigung von ihm. Dass sie deshalb tat, was er verlangte.
Doch da irrte er sich gewaltig.
Kapitel 8
Armut oder Ehe? Noch 26 Tage für Roxbury …
Im Büro der London Weekly Fleet Street 53, London
Selbst Tage später hatte sich Juliannas Puls noch immer nicht beruhigt! Sie schob es auf ihren Frust, weil sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie den Kuss nun genossen oder verabscheut hatte. Es war doch ganz eindeutig, wie wenig dieser Roxbury sie mochte – was grundsätzlich ja auch in Ordnung war, immerhin schätzte sie ihn auch nicht sonderlich. Aber wie konnte ein Kuss zwischen zwei Menschen, die sich umeinander nicht scherten, so … mächtig, berauschend und geradezu lustvoll sein?
Sie wusste auch, dass es ein Kuss voller Wut und Frustration war. Ihr waren die Knie weich geworden, just in dem Moment, als sie ihm nachgab. Julianna seufzte vor Sehnsucht. Immerhin verstand sie Roxburys Frauen jetzt ein bisschen besser. Nicht zuletzt deshalb, weil sie auch nach ausgiebigstem Nachdenken nur zu dem Schluss kam, dass sie den Kuss hasste, weil sie ihn genossen hatte.
Es war eine halbe Ewigkeit her, seit Julianna das letzte Mal geküsst worden war, und eine ganze Ewigkeit, seit sie das letzte Mal von einem Mann umarmt worden war. Sie hatte sich nach beidem nicht gesehnt, bis sie eine Kostprobe von dem hatte bekommen dürfen, was ihr entging. Verflucht möge Roxbury sein!
Aber das war kein Thema, an das sie einen Gedanken verschwenden durfte – geschweige denn, ein Wort –, denn gerade jetzt stand die nächste Redaktionssitzung bei der London Weekly bevor.
Alle Autoren und Redakteure der Weekly versammelten sich einmal pro Woche, um dem Verleger Mr. Knightly ihre Geschichten vorzustellen. Die Schreibfräulein kamen gewöhnlich als Erste, setzten sich an eine Ecke des Tischs und plauderten schamlos und ununterbrochen, bis das Treffen begann.
Obwohl ihre
Weitere Kostenlose Bücher