Riven Rock
nicht. Seine Knochen wurden weich, die Beine waren wie tot, und er fühlte sich gut, besser als gut, als plötzlich eine gewaltige schimmernde Fleischkugel am Rand seines Gesichtsfeldes auftauchte, eine große, zupackende Hand ergriff seinen Arm und zerrte ihn in Richtung des Orchesters. Es war Brush. Dr. Brush. Er trug einen Bastrock und eine dieser Blumengirlanden auf der nackten Schwabbelbrust, und er zog an der einen Hand Mrs. Brush, an der anderen O’Kane hinter sich her, und dem Vorwärtsdrang dieses mächtigen Fleischbergs in Bewegung ließ sich nichts entgegensetzen. »Kamehameha!« rief Brush und wackelte mit den Hüften. »Yakahula, hickydula!«
O’Kane fühlte, wie er rot wurde. Er kämpfte wie ein Fisch an der Angel, und dann sah er Dolores’ Gesicht mitten in der Menge auftauchen, ihr aufblitzendes satirisches Grinsen, er knallte gegen irgendwen – den Zahnarzt, oder?–, ein Glas kippte um, dann noch eins. Endlich konnte er sich von dem Arzt losreißen und blieb in dem wogenden Menschengewirr stocksteif stehen, alle lachten, kreischten vor Vergnügen, und Brush stürmte weiter in all seiner hängebrüstigen Pracht, bis er direkt vor dem Orchester stand und alle Blicke im ganzen Haus auf ihn gerichtet waren.
Eldred schrammelte weiter, bis ihm fast die Hand abfiel, die Musiker fingen Feuer, Dr. Brush legte schlotternd einen Shimmy hin, schleuderte seinen wabbelnden Körper in alle denkbaren Richtungen, während seine arme zappelnde Frau die ganze Palette ihrer Zuckungen und Tics durchspielte und mit ihm Schritt zu halten versuchte. Und da hatte O’Kane eine Offenbarung, seine Hoffnungen schwanden dahin wie die eines Sterbenden: dieser Brush würde Mr. McCormick garantiert nicht erretten oder ein Wunder wirken, nie im Leben würde der auch nur an der Oberfläche seiner Krankheit kratzen – schlicht und einfach aus dem Grund, daß er selbst von Natur aus ein Idiot war.
3
Die Kunst der Brautwerbung
Als Stanley McCormick an jenem ruhigen sonnenhellen Nachmittag des Sommers von 1903 über den Rasen vor dem Beverly Farms Resort Hotel in Beverly/Massachusetts schritt und Katherine Dexter ihn zum erstenmal in ihrem Erwachsenenleben sah, da war er nicht ganz im Lot. Er war den ganzen Tag gefahren, und zwar schnell, so schnell, als wäre ihm eine Horde schnatternder Dämonen mit scharfen Krallen auf den Fersen, die ihm ihre ledrigen schwarzen Schwingen um den Kopf fetzten und Verderben ins Ohr brüllten. Etwas hatte ihn an diesem Morgen beim Frühstück gepackt, eine Unruhe, ein Nervenstoß – es war, als würde ein Schalter in ihm umgelegt, und daraufhin stob sein ganzes Dasein, sein privates inneres Ich in einer furiosen Raserei davon wie ein verschrecktes Pferd oder ein führerloses Automobil. Deshalb hatte er auch seinen Chauffeur zurücklassen müssen, als sie bei einem Laden in Medford zum Tanken hielten; der gute Mann hatte keine Ahnung davon, bis er hinter dem Schuppen hervorkam, wo er seine Notdurft verrichtet hatte, und auf einmal den Wagen auf der Straße davonbrettern sah (es war nicht persönlich gemeint, und Stanley wünschte ihm alles Gute, wirklich, aber wenn der Schalter einmal umgelegt war, dann konnte er nichts dagegen tun), und nun lenkte Stanley den Mercedes-Roadster selbst, genau das gleiche Modell, das John Jacob Astor vor zwei Jahren beim Langstreckenrennen von New York nach Buffalo gefahren hatte, er donnerte Straßen entlang, die nicht viel besser als Kutschenwege waren, wo er Staubtornados, flatternde Hühner und entrüstet kläffende Hunde hinter sich ließ. Er hielt kein einziges Mal an, bis er nach Danvers kam, immer Vollgas, der Motor heulte, und er war atemlos von dem Adrenalinrausch, den ihm die Geschwindigkeit von über dreißig Kilometern pro Stunde bescherte.
In Danvers stieg er aus, er zitterte so stark, daß er Angst hatte, seine Beine könnten ihn nicht tragen, und schon scharte sich eine Menschenmenge zusammen, Farmer in Overalls mit ihren rotgesichtigen Frauen, Kinder auf flinken Beinen, ein Versicherungsvertreter und der Bankkassierer, der gerade Mittagspause hatte. Stanley versuchte ein Lächeln aufzusetzen – er wußte sehr wohl, was für einen Anblick er bot mit seinen eins dreiundneunzig und dem Aussehen eines Marsmenschen mit seiner Autofahrerbrille, der Lederkappe und dem schweißdurchtränkten Mantel voller Staub, Federn und toter Insekten –, nur die Gesichtsmuskeln wollten nicht mitspielen. Er hob matt die Hand zum Gruß oder zur Warnung oder zur
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