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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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wäre er ausgestiegen und hätte sich ein wenig die Beine vertreten, während der Chauffeur den Reifen flickte und das Rad wieder montierte, doch diesmal war sein Fahrer in Medford und die Straße lag, so weit er in beide Richtungen sehen konnte, verlassen da. Und das Automobil würde nicht allzuweit kommen mit einem Loch im Reifen und einem geplatzten Schlauch.
    Stanley kletterte aus dem Wagen. Es war der letzte Tag im August, ein träger, heißer, stiller Tag, kein Windhauch regte sich, dichte weiße Wolken ballten sich wie Fäuste entlang des Horizonts. Er roch das Gras, hektarweise Gras, eine unendliche Weite davon, Gras und Unkraut und üppige, protzige Sumachbüsche vor einem Wald aus Bäumen, so dicht und so verschieden, als wäre er im Amazonasbecken und nicht in Massachusetts. Bärenspinner stiegen aus dem Gestrüpp am Straßenrand auf, Grashüpfer pfählten sich auf Sonnenstrahlen, von der Wiese her glotzten Kühe blöd herüber. Ohne lange zu überlegen, streifte Stanley Mantel und Jackett ab, schob die Schutzbrille nach oben und bückte sich zum kalten, festen Griff des Wagenhebers, und schon stand der Schalter wieder auf Aus, so still und tot und losgelöst von der Stelle in seinem Innern, mit der er verbunden gewesen war, als hätte er gar nicht existiert, als wäre es ihm nie passiert, daß er zitternd und gehetzt in einen Waschraumspiegel sah und ein Hund ihn daraus anstarrte, in einem Restaurant, wo er vergeblich versucht hatte, etwas zu essen. Jede Erinnerung daran war weg, verschwunden, ausgelöscht. Er war ein Mann auf einer Landstraße, irgendwo liegengeblieben zwischen Dorf und Stadt, beim Wechseln eines Reifens.
    Er machte sich die Hände schwarz, und der Straßendreck kroch in die Knie seiner Hose. Er hatte Schmiere auf dem Hemd. Der Schweiß troff ihm von der Nasenspitze und bildete Pfützen im Staub. Und er bekam einen Sonnenbrand, sein Gesicht wurde so rot, daß er aussah, als hätte man ihn mit Ohrfeigen ins Bewußtsein geholt, erneut in die Ohnmacht entgleiten lassen und dann nochmals geohrfeigt. Aber er schaffte es. Er wechselte den Reifen ohne Hilfe, Dank oder Ratschlag von irgendwem, und als er wieder auf das Trittbrett stieg und sich hinters Lenkrad setzte, da fühlte er sich, als könnte er jedes Problem lösen, jeder Gefahr trotzen, so zäh und unerschrocken wie Sitka Charley, wie der Malemute Kid, wie Jack London persönlich.
    Diese Stimmung brachte ihn nach Beverly, ließ ihn dort aussteigen, um sich nach einem Hotelzimmer zu erkundigen und in der Gemischtwarenhandlung Kraftstoff zu kaufen, und trug ihn weiter quer über das vibrierende schimmernde Grün eines Croquet-Rasens und in Katherine Dexters wissenschaftlich geschultes Blickfeld. Er badete, wechselte die Kleider, kämmte sich und stutzte seinen Schnurrbart im Spiegel, und darin sah er sich naturgetreu reflektiert wie jeder andere Mensch, und er ging sogar so weit, dem eigenen Spiegelbild zuzuzwinkern. Dann begab er sich zum Abendessen hinunter, und noch nie im Leben war er so hungrig gewesen.
    Der Speisesaal war lebendig, voller Urlauber, die vor ihrer Suppe und ihren Koteletts saßen, inmitten des gedämpften Klapperns von Tafelsilber und des zischelnden Raunens der Unterhaltung, sanft und beruhigend zugleich, und nachdem er kurz im Vestibül gewartet hatte, ließ sich Stanley vom Ober zu einem Tisch führen. Als der Kellner kam, fand Stanley, er könne sich zur Anregung ruhig ein Gläschen Wein gönnen – er fühlte sich aufgekratzt nach seiner wagemutigen Fahrt und dem Abenteuer mit dem Reifen, und dieses Gefühl wollte er bewahren. Beiläufig musterte er die anderen Gäste, ihre munteren Mienen, die geschäftigen Ellenbogen, die Freude, die jeder an den allerkleinsten Dingen zu haben schien, und er bemerkte Katherine nicht, zunächst jedenfalls nicht, und er überlegte sich, wie angenehm es doch war, in diesem Speisesaal weit weg von Boston zu sitzen, auf freier Wildbahn und ohne irgendwem verantwortlich zu sein, wie ein fahrender Ritter, falls Ritter im Motorwagen unterwegs waren. Dann kam der Wein, gut gekühlt in einem Kübel voll Eis, und der Kellner reichte ihm die Speisekarte.
    Er fing an mit der Ochsenschwanzsuppe, gefolgt von Gurkenspießen, Oliven und gekochtem Heilbutt mit Eiersauce und Kartoffeln parisienne . Für den Hauptgang wählte er Hammelkeule in Kapernsauce, dazu Bratäpfel und Zwiebelringe, junge Erbsen und Tomatensalat mit Mayonnaise. Als Dessert nahm er zuerst einen Brotpudding in Cognacsauce,

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