Riven Rock
lang. Für seine Ausdauer wurde er von Mrs. Dexter belohnt – »Ach, bitte, Stanley, nennen Sie mich doch Josephine« –, die ihm jeden Abend im Salon Gesellschaft leistete, wo sie in Jugenderinnerungen schwelgte, während er sich pflichtbewußt durch die labbrigen Fischaufstrich-Sandwiches und Mohnkekse quälte und Kanne um Kanne von ungenießbarem Tee trank. Aber das war es wert, da Katherine sich offenbar aufrichtig freute, ihn zu sehen, sie war übermütig wie ein Seehund und strahlte in ihrem neuerworbenen Wissen, und wann immer sie eine Stunde der Erbauung in ihren Zeitplan zwängen konnte, gestattete sie ihm, sie ins Theater oder zu einem Konzert auszuführen.
Zu Weihnachten kam sie nach Chicago, um dort eine Freundin zu besuchen, während ihre Mutter in Europa weilte, und Stanley war selig. Er und Nettie wohnten wieder in der Rush Street, seit das Wetter in den Adirondacks gar zu unwirtlich geworden war, und wenn er sich auch noch nicht danach fühlte, wieder zu arbeiten, hatte er doch das Zeichnen erneut aufgenommen und ein halbes Dutzend Portraits von Katherine in einer bräunlichen Wischtechnik aus Kreide und Sepiatinte angefertigt – alle nach der einen Photographie, die sie ihm geschenkt hatte. Natürlich war er als Künstler nichts wert und besaß nicht das Recht, sich an einem Bild von ihr zu versuchen – es hätte eines Pintoricchio, eines Cellini bedurft, ihr gerecht zu werden –, aber er fand dennoch, es sei ihm gelungen, etliche interessante Züge an ihr einzufangen, und er hatte sich bereits mit dem Gedanken eines erneuten Besuchs in Boston getragen, um ihr eine seiner Skizzen zu verehren. Oder vielleicht zwei. Oder alle sechs. Er konnte sich kaum bezwingen, bombardierte sie mit Blumen und Telegrammen, gemartert von der Vorstellung, Butler Ames oder sonst ein aalglatter Rivale könnte ihm zuvorkommen, andererseits wollte er auch nicht übereifrig wirken – da erhielt er ihren Brief, in dem sie schrieb, sie treffe am neunzehnten in Chicago ein, um Nona Martin zu besuchen, von den Polstermöbel-Martins, und er zerschmolz in brutzelnder Vorfreude, wie ein Klecks Butter in einer heißen Pfanne.
Als der Zug einfuhr, wartete Stanley am Bahnhof mit seinem Chauffeur und dem neuen Wagen, einem Packard mit gedecktem Tonneau über der rückwärtigen Sitzbank. Er stand dort wie ein Wachtposten, als sie aus dem Waggon stieg, und war beladen mit Blumen, drei Pralinenschachteln und, eingewickelt in braunes Papier, der neuesten seiner Portraitzeichnungen. Der Zug kam mit fünfzehnminütiger Verspätung, und er übte sein Lächeln schon so lange, daß ihm die Zunge eingetrocknet war und irgendwie an der Mundschleimhaut festklebte, weshalb er einige Mühe hatte, die einstudierte Ansprache herauszubringen. »Katherine!« rief er, ergriff ihre Hand in einem Durcheinander aus Blumen und Pralinen, während sein Chauffeur sich um den Gepäckträger und die Übernahme ihrer Koffer kümmerte. »Ich kann dir gar nicht sagen, wieviel mir das bedeutet, deine Reise hierher nach Chicago – dein Besuch, meine ich –, es ist wirklich der Höhepunkt meines elenden, nichtswürdigen, so vollkommen nutzlosen Daseins, und ich, ich...«
Sie trug einen Pelzmantel, und der Duft der darin eingefangenen Körperwärme war berauschend. Sie hob den Schleier ihres Hutes und zeigte ihm ein Lächeln und zwei fröhliche, schimmernde Augen. »Stanley!« rief sie aus. »Was für eine Überraschung! Wie aufmerksam, mich hier abzuholen, aber das wäre doch gar nicht nötig gewesen, wirklich nicht.« Und dann stieß sie einen Juchzer aus und warf sich in die Arme einer jungen Frau im Fuchspelz, deren Haar die Farbe von alten Seilen hatte, und Stanley fühlte sich von neuem zurückgestoßen. Aber nein, das war Nona Martin, und sie freute sich sehr, ihn kennenzulernen – Katherine hatte ihr ja schon soviel von ihm erzählt –, und sie ließ sich gern von ihm in seinem Motorwagen mitnehmen.
In Stanley loderte ein Freudenfeuer, er war elektrisiert – Katherine hat mir ja schon soviel von Ihnen erzählt –, während er sich zu den beiden Frauen in den Wagen zwängte und dabei die ganze Zeit mit der gerahmten Skizze in festem braunem Packpapier herumfuchtelte. Katherine saß bei ihm, direkt neben ihm, und er roch ihr Parfum und den süßen Minzeduft ihres Atems. »Für dich«, sagte er und reichte ihr das Portrait in einem Tohuwabohu aus Knöcheln und Ellenbogen und dem behindernden Gewirr von Mänteln und Schals und Handschuhen. »Ich –
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