Riven Rock
wenig Heimweh hast? Nach Prangins? Oder auch nach Boston?«
Josephine war damals Ende Fünfzig, eine resolute, lebendige Frau, auf immer in Schwarz gekleidet, mit einem Hut voll wildem Federschmuck und Augen, die zu klein für ihr Gesicht waren. Sie legte den Kopf schief und lächelte. »Ich verstehe schon, Liebes: Du brauchst etwas Zeit allein mit Stanley. Ich nehme morgen den Zug nach Genf.«
»Es macht dir nichts aus?«
Josephine schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Ich weiß noch, wie es mit deinem Vater war« – sie betrachtete ihre Hände und sah Katherine dann vorsichtig an – »in unseren Flitterwochen, meine ich. Weißt du, wir hatten eine gewaltige Hochzeit – halb Chicago war eingeladen –, und als wir endlich allein waren, unsere erste Nacht im Hotel...«
Katherine hatte in einem Gedichtband geblättert, jetzt klappte sie das Buch leise zu und packte den ledernen Einband, als wäre er lebendig und zappelte in ihrem Schoß. Ihr Herz schlug heftig. »Ja?« sagte sie.
»Nun, es war für uns beide ein echtes Abenteuer, denn wir waren ja noch nie auf diese Weise miteinander allein gewesen, und dein Vater war« – wieder senkte sie den Blick – »er war sehr liebestoll.«
Es herrschte ein verlegenes Schweigen. Nach einer Weile räusperte sich Katherine. »Darüber wollte ich ohnehin mit dir sprechen, Mutter, genau über dieses Thema – über das eheliche Zusammenleben, meine ich –, weil Stanley nämlich, na ja...«
»Du meine Güte«, rief ihre Mutter aus, »schau nur, wie spät es geworden ist. Die Zeit fliegt!« Sie sah aus, als würde sie gleich aus ihrem Sessel aufspringen, zum Ufer rennen und sich kopfüber ins Mittelmeer stürzen. »Ich wollte vor dem Abendessen noch ein Schläfchen halten – die viele Sonne, das macht einen wirklich müde.«
»Jetzt bleib noch eine Minute, Mutter«, beharrte Katherine, »mehr verlange ich ja nicht. Bitte!«
Ihre Mutter bewegte den Kopf kaum merklich, neigte den Federhut ein winziges Stück. Ihre Blicke waren Nadelstiche, der Mund ein schmaler Spalt aus Abscheu und Mißbilligung.
»Stanley kann irgendwie keine...« begann Katherine und verlor wieder den Mut. »Es scheint so, als wollte er gar nicht...« Sie wurde rot. Die Stimme trocknete ihr in der Kehle ein. »Intim sein, meine ich.«
Josephine wirkte erschrocken, jetzt verfärbte sich auch ihr Gesicht. Sie wollte erst aufstehen, dann überlegte sie es sich anders. »Katherine«, sagte sie dann in einem Tonfall, mit dem sie sonst nur das Personal tadelte, »es gibt Dinge, über die man einfach nicht spricht – über die niemand gerne spricht.«
»Aber ich muß darüber sprechen, Mutter«, sagte Katherine, denn jetzt peinigten sie der Schmerz und die Verwirrung der letzten Wochen und stachelten sie an weiterzureden, »weil Stanley nämlich nicht mein Mann ist, nicht... nicht so, wie ich es erwartet habe, so wie jeder...« Sie verstummte.
»Nicht dein Mann?« Josephine schlug die Hand vor den Mund und sah sich rasch im Raum um. »Wovon redest du?«
Katherine fühlte sich jämmerlich und elend, sie war wieder ein kleines Mädchen, und ihre ganze wissenschaftliche Ausbildung, ihre Kenntnisse vom Leben und vom Fortpflanzungszyklus nutzten ihr überhaupt nichts: Ihre Mutter hatte mehr Ahnung als sie. »Ich meine... im Bett.«
Josephine brauchte etwas Zeit. Sie saß starr in ihrem Sessel, während das Mittelmeer vor den Fenstern großartige Wellen warf, und sie hatte den Ausdruck eines Folteropfers, einer Frau, der man die Fingernägel einen nach dem anderen aus dem Fleisch riß. »Bring ihn an die frische Luft«, riet sie schließlich. »In die Natur. Viel Fleisch essen. Solche Sachen.« Wieder eine Pause. »Warum geht ihr nicht skifahren?«
Katherine entschied sich schließlich für Sankt Moritz in Graubünden, nicht weit von der italienischen Grenze. Sie nahmen Zimmer im Grandhotel Engadiner Kulm, einem riesigen, idyllischen alten Kasten mit Schneewächten auf dem Dach, riesigen prasselnden Kaminen und einem Wiener Streichquartett, das abends im Speisesaal und zum Tee aufspielte. An den Vormittagen unternahmen sie lange Spaziergänge durch den verschneiten Ort, wo alle Häuser und Geschäfte schon für Weihnachten geschmückt waren, in der Luft lag der Geruch von Holzöfen und gerösteten Kastanien, und nach einem gemütlichen Mittagessen gingen sie auf die Pisten. Katherine konnte exzellent skilaufen, aber Stanley war geradezu ein Meister darin. Elegant und gekonnt schoß er über die
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