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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Natürlicheres auf der Welt. Mühelos glitt sie durch das Gedränge, und er stellte überrascht fest, wie groß sie war, größer als in seiner Erinnerung – eins dreiundsiebzig oder sogar eins fünfundsiebzig, und da waren schon drei Zentimeter für die Absätze abgezogen. O’Kanes Lächeln formte sich nur langsam, fast verstohlen, und ehe er sich recht sammeln konnte, stand sie schon vor ihm mit ihrem breitkrempigen Hut und dem bestickten Schleier und den traubenblauen Handschuhen. Er war ein Dummkopf. Ein Bauerntölpel. Er sagte nicht: »Hallo«, sondern: »Ja?« wie der Verkäufer in einem Schuhgeschäft.
    Der Chauffeur musterte ihn. O’Kane mochte ihn auf den ersten Blick nicht, als sie einander kennenlernten – oder vielmehr in die Gesellschaft des anderen gestoßen wurden. Er war ein kleiner Kerl, noch kleiner, als er anfangs gewirkt hatte, vor allem im Gegensatz zu Mrs. McCormick – zu Katherine. Er trug eine dieser Dienstbotenmützen und hatte massenhaft braun eingewickelte Pakete in den Armen.
    »Ich hatte Angst, wir würden Sie verpassen«, keuchte sie und stieß jede Silbe einzeln hervor, um zu beweisen, wie sehr sie sich beeilt hatte. Ihr Gesicht war leicht gerötet – oder bildete er sich das nur ein? Und wenn ja, warum wollte er, daß es gerötet wäre? Es ging ihn doch gar nichts an. Sie sah ihm jetzt fest in die Augen, und er versuchte, dem Blick standzuhalten. »Ich war mit meiner Mutter weit draußen in Brookline, und wir sind den ganzen Weg hierhergerast... aber es hat ja noch – geht es meinem Mann gut? Hat er es bequem?«
    »Ja, ja«, versicherte ihr O’Kane, »wir haben ihn vor einer Viertelstunde hineingetragen, und im Moment ist Nick bei ihm im abgeschlossenen Abteil, aber er ist immer noch blockiert und sich seiner Umgebung nicht so recht bewußt...«
    Darauf hatte sie nichts zu sagen. Obwohl sie ihn nicht hatte besuchen dürfen, mußte sie den Zustand, in dem sich ihr Mann befand, genau kennen. O’Kane hatte es schon oft gesehen, zu viele Male, um sie zu zählen. Bei dieser Art von Katatonie verkrampfte sich der Patient so sehr, daß er nicht mehr gehen oder essen konnte, und er verstummte völlig, als hätte er niemals sprechen gelernt. Manchmal erstarrte er in einer ganz bestimmten Haltung, wie eine lebende Skulptur, um dann, ohne Vorwarnung, in alle möglichen heftigen Verrenkungen auszubrechen, als wäre die aufgestaute Energie, Angst und Rage plötzlich wie eine Blase in ihm aufgeplatzt. Während des letzten Monats hatten sie Mr. McCormick zwangsernährt, Schlauch in den Hals, Brei in den Trichter, und er oder Nick oder einer der anderen Pfleger mußte die Kehle des Patienten massieren, um sicherzustellen, daß er das Essen auch schluckte und nicht daran erstickte. In der Irrenanstalt von Boston war einmal ein achtzehnjähriges Mädchen an so etwas gestorben, das Essen hatte die Luftröhre verklebt, und O’Kane erinnerte sich auch an einen alten Mann, der zu Tode verbrüht worden war, als sie seinen erstarrten Körper ins Badewasser hoben, das vorher niemand kontrolliert hatte, und der Bursche war so hinüber gewesen, daß er überhaupt nicht gezuckt und geschrien oder sonstwie reagiert hatte.
    Sie blickte auf ihre Schuhe und hob dann wieder den Kopf, um an O’Kane vorbei auf Pat und Mart zu sehen, die sich gerade abmühten, einen der Schrankkoffer des Doktors in den Waggon zu stemmen. »Ich habe ihm noch ein paar Sachen gebracht«, sagte sie, und das war das Signal für den Chauffeur, sich seiner Last zu entledigen und die Pakete ohne Umschweife O’Kane in die Arme zu schieben. Es waren sechs, und wären sie mit Goldbarren gefüllt gewesen, hätten sie kaum schwerer sein können. »Bücher, größtenteils«, sagte sie, »aber ich habe auch zwei Schachteln mit seinen Lieblingspralinen dazugetan, die eingewickelten von Schrafft’s, und etwas Briefpapier, falls er – also, wenn ihm nach Schreiben sein sollte. Und solange es meinem Gatten nicht gut genug geht, daß er selbst lesen könnte, erwarte ich von Ihnen und den übrigen Pflegern, daß Sie sich zu ihm setzen und ihm vorlesen. Sie glauben gar nicht, wieviel so etwas ausmacht.«
    O’Kane war kein großer Bücherleser, und er bezweifelte, daß selbst die Wiederkunft Christi samt all seiner Engel und Posaunen, live im Salonwagen aufgeführt, auf Mr. McCormick in seinem derzeitigen Zustand allzuviel Eindruck machen würde. Aber sie zahlte die Rechnungen, und O’Kane war auf dem Weg nach Kalifornien. »Natürlich, wir

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