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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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lesen ihm gerne etwas vor«, sagte er und probierte es mit seinem Lächeln von grenzenloser Aufrichtigkeit – dasjenige, das er für jedes Mädchen und jede Frau aufgesetzt hatte, die seinen Pfad kreuzten, ehe Rosaleen auf ihn gestoßen war. »In dieser Hinsicht können Sie ganz beruhigt sein.«
    Jetzt aber, als er sich sachte im schwankenden Türrahmen wiegte und auf die leblose Gestalt seines Arbeitgebers und die breite, stoppelige Fläche von Marts Hinterkopf starrte, der sich über das offene Buch beugte, wurde ihm klar, daß der arme Mr. McCormick sich in seinem armen blockierten halluzinatorischen Hirn allenfalls seine eigenen Bücher zusammenträumen konnte. »He, Mart«, sagte er, »ich geh jetzt einen Kaffee trinken und vielleicht einen Happen essen – willst du irgendwas?«
    Mart fuhr auf seinem Sitz herum und sah ihn abwesend an, die ausgebreiteten Schwingen des Buchs flatterten auf seinem Schoß. Alle drei Thompson-Brüder waren mit wuchtigen Köpfen geboren worden, wie Bulldoggen – ein Wunder, daß ihre Mutter auch nur einen von ihnen überlebt hatte –, doch das schien bei ihnen nicht dieselbe Wirkung zu haben wie bei einigen Hydrozephalus-Patienten auf der Station. Niemand würde einen der Brüder für ein Genie halten, aber sie kamen ganz gut zurecht – besonders Nick –, und Pat und Martin würden ihr Leben für einen opfern. Mart war schlecht im Zusammenzählen, und eine einfache Division überforderte ihn, aber er war eine Leseratte, und abgesehen davon, daß der Abstand zwischen seinen Augenbrauen und dem Haaransatz zu groß war und er sich seine Hüte extra anfertigen lassen mußte, wäre niemandem etwas Besonderes an ihm aufgefallen. Außerdem, wenn man es recht bedachte, mußte man nicht unbedingt ein John Stuart Mill sein, um einen Paranoiker auf den Boden zu drücken oder einen Trupp Schwachsinnige für ein paar Leibesübungen auf den Hof zu scheuchen.
    »Gutes Buch?« fragte O’Kane.
    »Hä?«Mart kratzte sich am Hinterkopf, die stumpfen Finger gruben sich genüßlich und breiträumig zu der weißen Kopfhaut durch. »Och ja, schon. Es ist eine Geschichte übers Seefahren.«
    O’Kane versuchte es noch einmal. »Soll ich dir eine Tasse Kaffee aus dem Speisewagen mitbringen?«
    Darüber mußte Mart nachdenken. Er ließ die Pünktchen seiner Augen auf O’Kane ruhen, während der Zug in allen Kupplungen ratterte, weil er gerade über ein etwas holpriges Gleisstück donnerte, was sie daran erinnerte, daß sie sich allem Anschein zum Trotz nicht in einem Haus, Hotel oder Gasthaus befanden, sondern durch die einbrechende Nacht rasten, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die für menschliche Wesen eigentlich nicht zuträglich war.
    Das Buch klappte abrupt zu wie ein Gebiß und segelte quer durch das Abteil; O’Kane mußte sich am Türrahmen festhalten, um Mart nicht mitten auf den Schoß zu fallen. Er fing sich gerade noch und sah instinktiv zu Mr. McCormick hinüber, doch ihr Arbeitgeber lag ungerührt und unverändert da, legte diese schwere Wegstrecke wie ein Fussel auf einer Decke zurück, die Augen feucht und unbewegt, ein dünner Speichelbach rann ihm aus dem Mundwinkel und breitete sich auf der einen Wange aus. Sein Gesichtsausdruck war höchst seltsam, halb gelindes Erstaunen und halb unheiliges Entsetzen, als hätte er etwas verlegt – seinen Schirm oder sein Scheckbuch – und wäre sich gerade klargeworden, daß es unter einem Haufen verwesender Leichen lag. Sein Haar war gekämmt und sauber gescheitelt, und er trug Anzug, Krawatte und einen steifen Kragen, gemäß den Anordnungen der McCormicks für seine Tagesgarderobe – als rechneten sie damit, daß er jederzeit aus dem Bett springen, die Krankheit abschütteln und zurück ins Büro gehen könne.
    »Schwarz«, sagte Mart schließlich. »Zwei Stück Zucker. Löst du mich dann bald ab?«
    Immer noch in den Türrahmen gedrückt, während der Zug auf einer längeren Geraden schneller wurde und die Räder erneut ihr sanftes, beruhigendes Geratter aufnahmen, fischte O’Kane seine Taschenuhr hervor. »Na ja, ich hab noch etwa eine Stunde lang frei«, sagte er. »Ich glaub, ich setz mich eine Weile in den Speisewagen oder vielleicht in den Salonwagen, damit ich mal ne andere Aussicht kriege...«
    Er erhielt keine Antwort. Mart starrte ihn nur an.
    »Mart, das war ein Witz – von wegen andere Aussicht?« O’Kane machte eine Geste in Richtung der Fenster und der draußen vorbeirasenden Schemen. Immer noch nichts. Achselzuckend

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