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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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übertünchte und das limbische System die Macht übernehmen ließ: Jagen und Flüchten, eine schlichte Sache. O’Kane war kämpferisch und klug, ein Mann von Härte, der alles mögliche durchstehen konnte, überall und jederzeit, und er war entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Und Stanley? Stanley war wie ein zusammengezwirbeltes Gummiband gewesen, nur halb so lang wie normal, das jemand plötzlich losgelassen hatte, er war ein Korken, der aus der Flasche schoß, eine Gewehrkugel auf der Suche nach der Mauer, die sie bremste.
    Im Speisewagen holte O’Kane ihn schließlich ein, aber nur weil Mr. McCormick dort von einem Fahrgast an einem der Tische abgelenkt worden war, einem Fahrgast, der das Pech hatte, zu jenem Geschlecht zu gehören, das Mr. McCormicks Nemesis und Obsession zugleich war: einer Frau. Die wilde Jagd war durch drei Waggons gegangen, angeführt von Mr. McCormick in seiner pendelnden, zuckenden schulterbetonten Gangart, der vorzuhaben schien, durch den ganzen Zug zu rennen, quer über den Kohlenwagen und die Lokomotive hinwegzustürmen, um sich vorne auf den Schienenräumer zu hocken und dort für den Rest der Fahrt nach Kalifornien mit den Zähnen Insekten einzufangen. Aber da saß eine junge Frau im Speisewagen, das Gesicht dem Zugende zugewandt, und nahm beim Kerzenschein ein elegantes Abendessen mit einer älteren Dame ein, die ihre Mutter oder eine Reisegefährtin sein mochte, und O’Kane sah voller Grausen zu, wie Mr. McCormick bei ihrem Anblick abrupt stehenblieb, den Kopf zurückwarf wie ein Reitpferd, das die Kandare spürt, und sich gleichzeitig nach links wandte und auf die Frau fiel. Oder nein, er fiel nicht einfach – er stürzte sich mit voller Wucht auf sie. Teller rutschten zu Boden, Essen flog durch die Luft, und die ältere Dame stieß einen Schrei aus, der den Lack von den Wänden schabte.
    »Mr. McCormick!« hörte sich O’Kane ausrufen wie ein Aufseher auf dem Schulhof, und dann war er über ihm, packte die heftig arbeitenden Schultern des größeren Mannes in dem Versuch, ihn von seinem Opfer abzureißen wie einen Streifen Klebeband und so alles wiedergutzumachen, während die junge Frau sich ächzend unter dem unerklärlichen Gewicht wand und Mr. McCormick ihre Kleider zerfetzte. Es war ihm gelungen, sich selbst teilweise zu entblößen, ihr das Mieder aufzureißen und ihren Hut wie einen Knäuel Polstermaterial zu zerknüllen, als O’Kane ihm endlich den rechten Arm auf den Rücken drehen und dort etwas überzeugenden Druck ausüben konnte. »Was Sie da tun, ist nicht recht, Mr. McCormick«, sagte er beschwörend, »das wissen Sie doch«, und er sagte es wieder und wieder, wie ein Gebet, aber ohne jeden Erfolg. Mit dem freien Arm um sich schlagend wie ein Wesen, das man in einem triefenden Fangnetz aus dem Meer gezogen hatte, hörte Mr. McCormick einfach nicht auf, schob seine linke Hand in die verletzlichste Stelle der Dame und – hiervon war O’Kane am meisten schockiert – nutzte die körperliche Nähe, um den blassen Lappen seiner Zunge hervorzustrecken und an ihrer Kehle zu schlecken wie an einer Eistüte. »Hören Sie auf!« donnerte O’Kane, verstärkte seinen Polizeigriff und riß ihn mit aller Kraft nach hinten, und dennoch war es nicht genug.
    In diesem Moment trat Nick auf den Plan. Inmitten des Tohuwabohus, des Gefuchtels und Geschreis, der vergeblichen Ermahnungen, des scheppernden Geschirrs und der auf dem Schoß der älteren Dame gelandeten gebratenen Long-Island-Ente schoß zuerst Nicks mächtiger Kopf, dann seine wuchtige rechte Faust über O’Kanes Schulter hinweg, und er versetzte ihrem gemeinsamen Arbeitgeber einen Schlag gegen die Schädelbasis, von dem er auf der Stelle zusammensank. Gemeinsam zogen sie ihn von der verängstigten jungen Frau herunter und schleppten ihn durch den Gang zurück wie einen leeren Anzug, womit sie alle Entschuldigungen, Rechtfertigungen, Erklärungen und Entschädigungsangebote Hamilton, Pat und dem sehr blassen und zerknitterten Mart überließen, die sich gerade durch die Tür am Ende des Waggons drängten.
    Der Doktor war hochrot im Gesicht. Sein Kneifer blitzte an der Schnur um seinen Hals, und seine Augen hüpften umher wie Billardkugeln nach einem sauberen Anstoß. »Fixieren!« war alles, was er hervorbrachte, während er von der erschlafften Gestalt des Patienten auf O’Kane, Nick und die Verwüstung weiter vorn blickte. Die Lichter flackerten, der Zug schaukelte dahin. Ein Dutzend verschreckter

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