Riven Rock
hatte, nicht jetzt und nicht heute abend, aber vielleicht stimmte es tatsächlich. Sie war jünger als Mrs. McCormick – zwei- oder dreiundzwanzig vielleicht – und hatte nicht wirklich deren Format, aber etwas an ihren Augen, ihrem Mund und der Art, wie sie die Schultern zurückwarf und ihr Gegenüber offen anblickte, so als wollte sie einen zu einer Partie Schach oder zum Hundertmeterlauf herausfordern, erinnerte an Katherine, fand er. Sie gehörten beide zu der Sorte Frauen, die es gewohnt waren, ihren Willen durchzusetzen, der Sorte, die das Wahlrecht forderte, Hosen anziehen und rauchen und die Welt auf den Kopf stellen wollte – und das Geld besaß, es auch zu tun.
Hamilton hatte ihn mitkommen lassen, als er Miss Brownlee mit weitgeöffnetem Scheckbuch aufsuchte, nachdem Mr. McCormick in seinem Abteil fixiert war und sie die Gelegenheit gehabt hatte, sich umzuziehen und die zwei leichten Abschürfungen auf der linken Wange zu behandeln, wo Mr. McCormick ihr Gesicht in den Bezug des Sitzes gepreßt hatte. Die Situation hatte einen unangenehmen Beigeschmack, verständlicherweise, aber Dr. Hamilton war in Hochform, grinsend und jovial, wortreich und geschickt, und sobald O’Kane jedem der Salonwagenschaffner einen Dollar und dem alten Herrn, der niedergetrampelt worden war, einen Fünfer gegeben hatte, brauchte er nicht viel mehr zu tun, als mitfühlend dreinzublicken und bei Bedarf ein reumütiges Lächeln aufzusetzen. Mrs. Brownlee, die Mutter, die Gesichtszüge spitz vor Empörung, konnte selbst von dem verworfensten Ungeheuer nicht glauben, daß es so völlig ohne Vorwarnung oder Anlaß ein unschuldiges Kind attackieren würde, noch dazu an einem öffentlichen Ort, und ihrer Meinung nach sei dies keine Frage von Entschuldigung oder gar Entschädigung, sondern eine Angelegenheit, der sich die Polizei oder die Gerichte widmen sollten, ganz zu schweigen von der Verwaltung der New York Central Line, die es zugelassen hatte, daß ein solcher Mann überhaupt im Zug war.
Hamilton schnurrte und lächelte und schürzte die Lippen, preßte in knappen Flüsterkaskaden Abbitten und Besänftigungen hervor, während die ältliche Dame ihm jedes dem Menschen bekannte Unglück auf den Hals wünschte, bis hin zu Fußlahmheit und Kreuzigung. Miss Brownlee ihrerseits hielt den Blick auf die gefalteten Hände gesenkt und hob ihn dann zu dem dunklen Schiebefenster und schließlich zu O’Kane. Man hatte sie schwer erschreckt und körperlich angegriffen, einer bösartigen, erniedrigenden Attacke ausgesetzt, jetzt aber war sie gelangweilt – so schien es ihm jedenfalls –, zutiefst gelangweilt, und wollte die ganze Geschichte am liebsten vergessen. Und sie blickte O’Kane in die Augen, um zu sehen, ob auch er sich langweilte, und ihr Blick war ein wenig komplizenhaft, herausfordernd, ja kokett.
O’Kane erwiderte diesen Blick, ohne ein Wort zu sagen, er ließ den Doktor die gewichtigen Verhandlungen führen – fünfhundert Dollar war der Betrag, auf den man sich schließlich einigte, und das auch nur, weil Mrs. Brownlee bereit war, für den Namen McCormick eine Ausnahme zu machen und den Vorfall zu vertuschen und ihre Rufe nach Polizei und Gericht zurückzunehmen –, und er sah sie unwillkürlich wieder so vor sich, wie sie eine halbe Stunde zuvor gewesen war, blutend und hilflos, das Gesicht angstverzerrt, Mr. McCormick auf ihr drauf, und dabei hatte er ein sonderbares Gefühl. Er hatte sie gerettet und müßte sich eigentlich wie der reinste Wohltäter fühlen, müßte sich an Arabella Doane erinnern, aber so war es nicht – er wollte sie nackt sehen, nackt und wie ein Dessert angerichtet auf der dünnen Matte seines Abteilbetts. Sie hatte eine dünne Linie aus verkrustetem Blut knapp unter der scharfen Kontur des Backenknochens und einen blauen Fleck im Mundwinkel, der ihren makellos weißen Teint verunstaltete und verfärbte, und er sah auf diesen Fleck und verspürte eine lüsterne Geilheit, so wie wenn Rosaleen sich nachts im Bett über ihn rollte, das Gesicht unter dem Vorhang ihres Haars dicht an seines heranschob und ihn anhauchte, bis er mit plötzlicher Erregung im Dunkeln aufwachte. Es war nicht recht, es war nicht sympathisch, aber so war es nun einmal.
»Und Sie finden wirklich, daß sie wie Mrs. McCormick aussieht?« fragte O’Kane nach kurzer Pause.
Der Doktor hatte nicht auf seinen Kommentar über die Fahrtroute der Brownlees reagiert, da er anscheinend Reiseziele wie Cincinnati oder Albany weit
Weitere Kostenlose Bücher