Riven Rock
Gesichter starrten von ihren Tellern mit Beef Wellington, Delmonico-Steak und gebratenen Täubchen zu ihm auf. »Und lassen Sie es sich auch nicht einmal im Traum einfallen, ihn vor der Ankunft in Kalifornien wieder loszubinden.«
Inzwischen war es Nacht. Der Zug fraß sich mit tristem, gedämpftem Geratter über die Schienen und raste durch die eintönige Leere nach Buffalo und weiter nach Westen. Die Lampen waren ausgeschaltet worden, und im Waggon war es dunkel, bis auf einen Lichtkegel hinten in der Ecke, wo Mart, dessen mächtig geschwungene Stirn von einem Stück Verbandmull umwunden war, geistesabwesend eine Patience legte. Nick und Pat hatten sich in ihr Abteil zurückgezogen und übertönten mit dem steten Tremolo ihres kontrapunktischen Schnarchens das ewige dumpfe Dröhnen der Eisenbahnräder. Mr. McCormick lag in seiner Kabine am Ende des Waggons, hellwach und steif wie ein Brett, niedergehalten von einem Geflecht aus angefeuchteten und so fest verdrehten Laken, daß sie hart wie Knebelverbände waren, und von niemandem bewacht, jedenfalls im Augenblick nicht. O’Kane hatte Mart abgelöst, und es war seine Aufgabe, die Nacht hindurch beim Patienten zu wachen und ihm aus Jack London oder Charles Dickens oder aus der Natural History of California von Laphroig vorzulesen, bis in den Fenstern der Morgen dämmerte, aber O’Kane war nicht an seinem Platz. Nein, er saß Dr. Hamilton in dessen engem Abteil gegenüber und hörte sich eine Predigt über das Wesen von Verantwortung, Wachsamkeit und die »drei Ps« an.
»Es ist wirklich mit nichts auf der Welt zu entschuldigen, daß Sie diesen Schlüssel im Schloß steckengelassen haben«, sagte Hamilton, dessen Stimme sich trotz seiner offenkundigen Erregung nie über den gewohnten Flüsterton erhob. Das Präsidenten-Pincenez schleuderte Lichtdolche durch die kleine Kabine. Er fuchtelte mit den Händen und zupfte sich krampfhaft am Bart. O’Kane rutschte auf dem Sitz herum. Nach seiner Zählung kam die Schuldfrage inzwischen zum zwölftenmal aufs Tapet, und wie bei jeder der vorigen elf Gelegenheiten schürzte er die Lippen, senkte den Kopf und sah Hamilton mit jenem Blick an, den seine Mutter »Chorknabe auf dem Totenbett« nannte.
»Wir müssen begreifen, jeder einzelne von uns muß begreifen, was für eine Gefahr Mr. McCormick in seinem momentanen Zustand darstellt, nicht nur für andere, auch für sich selbst«, fuhr der Arzt fort. »Haben Sie gesehen, was er dieser jungen Frau in der Spanne von gerade dreißig Sekunden angetan hat? Schockierend. Und Sie können mir glauben: Ich kenne das ganze Spektrum psychosexuellen Verhaltens.«
Dazu konnte O’Kane nur wenig sagen. Er wartete darauf, entlassen zu werden, um seine Buße am Bett des Patienten abzuleisten und die Sache hinter sich zu bringen, das Leben weitergehen und Buffalo am Horizont auftauchen zu lassen wie einen hellen Lichtertraum. Er wartete auch noch auf etwas anderes, auf etwas, was Hamilton nicht erraten und auch nie vermuten würde: er wartete darauf, daß der Arzt sich endlich schlafen legte, damit er sich in den Salonwagen schleichen und dort ein paar Whiskeys trinken konnte, um seine Nerven zu beruhigen und der Ödnis der kommenden Stunden den Stachel zu nehmen – mochte er sie zuvor nicht wirklich gebraucht haben, jetzt hatte er sie bitter nötig.
Aber der Doktor war noch nicht fertig. O’Kane sollte sich winden und krümmen, sollte die Hierarchie innerhalb des McCormick-Behandlungsteams erfassen und begreifen, was er von seinen Untergeordneten erwartete, denn er werde keine weitere Entgleisung in Sicherheitsfragen wie die von diesem Abend durchgehen lassen, selbst wenn dazu gewisse Personalveränderungen notwendig seien, und er hoffe doch, daß O’Kane ihn hierin verstanden habe. »Ich brauche ja wohl nicht zu betonen«, sagte er, wobei er sich mit einer Hand am Bart zupfte und mit der anderen nach seiner Pfeife tastete, »wieviel Mr. McCormicks Gesundheit und Wohlergehen für alle von uns bedeuten, für mich und Mrs. Hamilton, für Sie und Ihre Frau sowie für Ihre Kollegen und deren Frauen. Dies ist eine einmalige Gelegenheit, und ich werde nicht zulassen, daß unprofessionelles Verhalten oder individuelle Nachlässigkeit sie aufs Spiel setzen.«
O’Kane sah, daß dem Arzt die Hände zitterten, als er den Tabak im Kopf seines riesigen, gekrümmten Flügelhorns von Pfeife festdrückte und dann entzündete. Er hatte ihn noch nie so aufgebracht gesehen, und es gefiel ihm nicht,
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