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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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besser zu sehen. Sie sah eine nackte junge Frau mit funkelnden Augen und ungestümem Haar, der Körper straff wie ein Bogen von dem schweißtreibenden Gymnastikprogramm, das sie ausnahmslos jeden Morgen ihres Lebens durchlief, energisch und hart und akkurat wie eine Sportlerin, auch wenn die ganze Welt in ihr nichts weiter als Zierat sah, einen leeren Kopf mehr zum Dekorieren für die Hutmacherin, einen nutzlosen Mund mehr, um übers Wetter zu plaudern oder Appetithäppchen von Zahnstochern zu essen. Aber sie war nicht nur eine Salonlöwin, sie war Katherine Dexter McCormick, und sie war unbeugsam. Sie würde sich nicht bezwingen lassen – nicht einmal nachgeben würde sie. Sie hatte sich am M.I.T. gegen eine von Männern beherrschte Fakultät und eine zu neunundneunzig Prozent männliche Studentenschaft durchgekämpft, die unisono aufgeschrien hatte bei dem Gedanken an eine Frau in den Naturwissenschaften, und sie würde auch das hier durchkämpfen. Die McCormicks. Das waren armselige, primitive Menschen. Keinen weiteren Gedanken wert.
    Sie öffnete die Tür. »Louisa!« rief sie und steckte den Kopf in den Flur hinaus, während der Dampf seine Finger um ihre Knöchel schlang und das Wasser brausend aus dem Hahn schoß.
    Das Dienstmädchen kam herbeigelaufen. Diese forsche, schmächtige Tochter einer frommen Familie in Brookline, die Kalifornien, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, für das Vorzimmer zum Himmel hielt, huschte mit einem Handtuchstapel ins Bad, der einen Meter hoch war. Katherine nahm ihr die Handtücher ab, und sie gab sich keine Mühe, ihre Nacktheit zu bedecken, überhaupt keine. Louisa sah weg.
    »Leg bitte meinen blauen Rock zurecht – den aus Seide – und auch die Samtbluse. Und meine Perlenkette – das kurze Halsband, meine ich.« Sie hielt inne, die Handtücher an die Brust gedrückt, die Sonne durchflutete jetzt den Raum, der Dampf entwich in dünnen Wölkchen. »Was hast du denn? Louisa?«
    Das Mädchen blickte auf und sah wieder weg. »Ma’am?«
    »Du brauchst dich vor mir nicht zu schämen. Du wirst doch bestimmt schon einmal eine Frau nackt gesehen haben – oder vielleicht doch nicht. Louisa?«
    Wieder dieser gesenkte Blick, geprügelt und unterworfen, als wäre der menschliche Körper eine Beleidigung, und auf einmal mußte Katherine an ein Mädchen denken, das sie in der Schweiz kennengelernt hatte, als sie mit sechzehn dort war – Liselle mit den großen Händen und der muskulösen Zunge, der ersten Zunge, die Katherine außer der eigenen je im Mund gehabt hatte. »Ma’am?« wiederholte das Mädchen, und sie wagte immer noch nicht aufzusehen, war plötzlich fasziniert von etwas auf dem Fußboden, ein Stück links von Katherines Füßen.
    »Nichts«, sagte Katherine, »nichts. Das wäre dann alles.«
    Um fünf Uhr nachmittags, die Sonne hing immer noch unnatürlich hell über den Büschen, der verborgene Vogel rekapitulierte unermüdlich sein kummervolles Gekrächze, holte der Wagen Katherine und ihre Mutter ab. Katherine war noch nicht fertig, obwohl sie den ganzen Nachmittag Zeit gehabt hatte, und als der Empfang anrief, um auszurichten, der Chauffeur sei eingetroffen, saß sie noch vor der Frisierkommode, steckte sich das Haar zu einer strengen Rolle auf und klemmte den schwarzen Samthut darüber wie einen Deckel. Ihre Nase lief nicht mehr – sie erwog nebenbei, ob sie wohl auf irgendeine in Kalifornien heimische Pollenart allergisch war –, aber die Kopfschmerzen waren geblieben, sie lauerten knapp hinter den Augenhöhlen wie eine tiefhängende Gewitterwolke, die jede Minute losplatzen konnte. Lieber als alles andere wollte sie in ihr Bett.
    Ihre Mutter dagegen war putzmunter und voller Energie, nachdem sie sich über drei Stunden lang in den sanft sprudelnden Quellen des Heilbades hatte pochieren lassen, und jedesmal wenn Katherine vom Frisierspiegel aufblickte, sah sie sie hinter sich mit ihrem neuen Hut herumwieseln, einem Hut, der nach Katherines Ansicht besser in der Schachtel hätte bleiben sollen. Und zwar für immer. Um in einer Zeitkapsel verschlossen zu werden, als Produkt einer Zivilisation, die sich seit den Babyloniern blindlings in Richtung dieser hutmacherischen Apotheose entwickelt hatte. Der Hut – ein schwarz-türkiser, breitkrempiger Gainsborough mit so vielen in eigenartigen Winkeln daraus hervorstehenden Federn, daß man meinen könnte, auf dem Kopf ihrer Mutter paarten sich gerade zwei Wildenten – war völlig deplaziert. Ansonsten trug

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