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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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irgendeinem Chester, Grover oder Cornelius, den sie an diesem Abend für die angemessene Gesellschaft hielt – und bald vergaß er alles: Mary Virginia, den Ort ihrer Verbannung, Kalifornien. Aber er hinterließ seine Spuren in dem Haus, nicht nur in der komplexen Serie von Änderungen, die schließlich das Haus selbst wurden, sondern auch in einem anderen, höchst wesentlichen Merkmal: er gab ihm den Namen.
    Als Nettie das Grundstück erwarb, war es bekannt unter dem Namen des Mannes, von dem sie es gekauft hatte, O. A. Stafford, und wurde das »Stafford-Haus« genannt, der Vorbesitzer war Oberst Greenberry W. Williams gewesen, der es seinerseits von José Lugo und Antonio Gonzales erworben hatte, den beiden dueños des ihnen ursprünglich von Mexiko zugewiesenen Landes. Inzwischen sprachen die Leute von der Liegenschaft, die immer noch aus Staffords zweigeschossigem Holzgebäude inmitten von Orangen- und Olivenhainen und dem üppigen Garten bestand, als dem »McCormick-Haus«. Nach Stanleys Ansicht war das schlichtweg unangemessen: I.G. Waterman, dem das Nachbargrundstück gehörte, nannte seinen Besitz »Mira Vista«, und die Goulds in der Olive Mill Road lebten in »La Favorita«. Dann gab es noch »Piranhurst«, »Riso Rivo«, »The Terraces«, »Cuesta Linda« und »Arcady«. Wenn Mary Virginias Haus samt Grundstück auch nur halbwegs ihre Klasse und ihren Status reflektieren sollte, dann mußte sich irgendwer einen geziemenden Namen dafür ausdenken, und während Cyrus, Harold und Anita in Chicago ahnungslos ihren Geschäften nachgingen und seine Mutter immer mehr Zeit im Garten des Hotels herumsaß, wurde Stanley diesbezüglich langsam nervös. Tatsächlich entwickelte sich die Namenlosigkeit des Anwesens während seines letzten Monats dort für ihn allmählich ebenso zur Besessenheit wie die schlampigen Pläne, und er blieb bis spät in die Nacht auf, weil er auf der Suche nach Inspirationen spanische und italienische Wörterbücher durchforstete und über alten Karten der Toskana, der Estremadura und Andalusiens brütete.
    Und dann, eines Nachmittags in der letzten Woche ihres Aufenthalts in Kalifornien, hatte er die Idee. Er spazierte gerade mit seiner Mutter und Dr. Franceschi, dem Landschaftsgestalter, über den Besitz und erörterte seine Ansichten zu Karyatiden, Statuen im allgemeinen und zur Funktion von Springbrunnen in koordinierten Arrangements aus künstlichen und natürlichen Elementen, als sie von einem unwegsamen Pfad auf eine Wiese mit einzelnen Eichen hinaustraten, die sich alle in eine Richtung neigten. Vor den Bergen ragten die Silhouetten der Bäume im Sonnenglanz auf, die Zweige abgespreizt wie die Arme einer Gruppe von Schlittschuhläufern, die alle im selben Augenblick das Gleichgewicht verloren. Es war Oktober, die Zeit der luftigen Klarheit, wenn der Himmel ganz weit zurückweicht, bis zu den Scharnieren der Finsternis dahinter. Schmetterlinge flatterten bläßlich über dem hohen gelben Gras. Auf den Zweigen zwitscherten Vögel.
    »Was für seltsame Bäume, Dr. Franceschi«, sagte Nettie und schirmte die Augen vor der Sonne ab, »wie sie alle so geneigt sind, als hätte sie jemand im Vorbeigehen umgekippt.«
    Dr. Franceschi war ein schmächtiges Männchen von Mitte Fünfzig mit einem gemüseartigen Bart, flinken Händen und den trockenen schnellen Augen der Eidechsen, die zu ihren Füßen pfeilschnell über die Felsen flitzten. »Das liegt daran, daß der Wind hier meist aus derselben Richtung weht«, sagte er, und seine kehlige Stimme klang wie ein Querflötensolo, »von den Bergen dort herunter. Man nennt ihn den ›Sundowner‹ – den Wind, meine ich.«
    »Und was ist mit dem da drüben?« fragte Stanley und zeigte auf einen Baum, der von dem Muster abwich, denn sein Stamm stand vertikal, und die Äste waren so ebenmäßig verteilt wie die Zinken einer Gabel. Er war knapp hundert Meter entfernt, dennoch konnte Stanley sehen, daß der Baum von einem Ring aus Fels umgeben war, wie von einem versteinerten Kragen, der ihn festzuhalten schien.
    »Ach, der, ja: diesen Baum wollte ich Ihnen ohnehin noch zeigen. Er ist in der Gegend eine bekannte Kuriosität.«
    Und dann überquerten sie die offene Wiese, Nettie wackelte kompakt und vollbusig dahin, der hagere Gartenbauarchitekt schwang sich beim Gehen auf die Zehenspitzen wie ein Ballettomane, und Stanley spazierte mühelos mit großen, ausgreifenden Schritten, die aus seiner Fortbewegung eine Art Gleitflug zu machen schienen. Im

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