Road of no Return
hingezerrt hätte – oder wenn sie morgen gnädigerweise auftauchen würde – , würde sie niemand tadeln. Sie würden ihr wahrscheinlich einfach noch ein paar zusätzliche Beratungsstunden anbieten.
An solchen Tagen konnte ich nur die Gesellschaft von Lola Nan ertragen. Das lag wohl daran, dass Lola Nans Welt keinerlei Sinn mehr ergab, so wie meine manchmal auch. Sie und ich, wir hatten früher eine enge Beziehung gehabt, wir hatten uns sehr geliebt. Vielleicht taten wir das auf einer anderen Ebene immer noch.
Vielleicht machte ich mir auch nur etwas vor, doch als ich das rostige Gartentor an unserem Haus öffnete, verspürte ich den unwiderstehlichen Wunsch, sie zu sehen und eine Weile in ihrer irrationalen, meist schweigsamen Gesellschaft zu verbringen. Lola Nan stellte keine unbequemen Fragen (außer gelegentlich »Wo ist Geoffrey?« – Großvater hat sich bereits vor zwanzig Jahren in seine Urne zurückgezogen).
Als ich klein war, hatte Lola Nan halb gesungen, halb gesummt,
um mich zu beruhigen und meine Tränen zum Versiegen zu bringen. Jetzt sang sie nicht mehr, aber oft summte sie noch, tonlos und stundenlang, ohne Unterbrechung, doch ich empfand das immer noch als genauso tröstlich wie früher.
Auf jeden Fall hatte ich einen derart schlimmen Tag gehabt, dass ich es nicht verdiente, dass es noch schlimmer kam. Doch genau so kam es, denn als ich das Haus betrat und die Tür zuknallte und ins Wohnzimmer ging, war Lola Nan nicht da.
Aber dafür Aidans Mutter.
3
Aidans Mutter hatte nichts Imaginäres. Es hatte zwar häufiger den Anschein, sogar für sie selbst, aber noch war es nicht so weit. Noch nicht.
Sie saß Mum gegenüber, Mum in Lola Nans fleckigem Sessel und Aidans Mutter auf unserem besten Lehnstuhl. Beide hatten eine Tasse Tee in der Hand, auf der Untertasse jeweils einen Keks, den sie nicht angerührt hatten, sodass die Schokolade an der heißen Tasse in einem Halbkreis schmolz. Lola Nan hatten sie offenbar so lange nach oben verbannt.
Die beiden Frauen wandten sich mir gleichzeitig zu, als ich die Tür aufstieß, Mum mit leicht panischem Gesichtsausdruck, den auch ihre vernünftige Beraterin-des-Herzens-Haltung nicht ganz überdecken konnte. Aidans Mutter trug ihr übliches Lächeln.
Sie hatte ein breites, helles, hübsches Gesicht und lächelte viel. Sie war nicht nur zerbrechlich, sie war bereits zerbrochen, und es schien, als würde sie nur durch reine Willensanstrengung noch aufrecht gehalten. Man hatte das Gefühl, sie würde sich wie bei einem geschickten Special Effect auflösen, wenn sie nur für einen Augenblick aufhörte, sich zu konzentrieren.
Ich mochte Aidans Mutter und sie tat mir leid, vor allem wegen Allies Benehmen, aber das konnte ich ihr ja schlecht sagen.
Es war ja nicht so, dass Allie diskret gewesen wäre. Eines Tages hatte die arme Frau meine Schwester im Park getroffen, wie sie, die Arme um die Knie gelegt, auf einer Bank saß und mit der Luft redete. Allie hatte es nicht einmal für nötig befunden, die Identität ihres unsichtbaren Freundes zu verschleiern, und so war seine Mutter leise weinend nach Hause geflüchtet.
»Hallo Nick!« Aidans Mutter schenkte mir ihr freundliches, zerbrechliches Lächeln. Sie versuchte stets, höflich und freundlich zu mir zu sein, und ich war ihr dafür dankbar.
»Hallo«, sagte ich und fragte dann: »Ist es wegen Allie?«
»Nick«, begann Mum mit allen Anzeichen peinlichster Verlegenheit. Sie mochte ja voller Worte der Weisheit stecken, aber bei Gott, manchmal brachte sie sie einfach nicht heraus.
»Ich weiß, dass Allie ein wenig zu alt für so etwas ist«, stieß sie schließlich hervor. »Ich weiß das, wir alle wissen das. Sie sollte da langsam rausgewachsen sein.«
Aidans Mutter betrachtete den Fußboden, die unglaublich saubere Stelle des Teppichs, wo Lola Nan gesaugt hatte.
»Nun, wir hatten Verständnis. Am Anfang zumindest. Es ist ihre Art, damit fertig zu werden, nicht wahr?«
Aber wenn sie immer noch Verständnis hätte, wäre sie heute nicht hier.
»Ich wünschte, ich könnte mit ihr reden.« Mum rieb sich angestrengt die Schläfen.
»Ich verstehe, dass es schwer ist«, entgegnete Aidans Mutter.
»Sie war in Behandlung. Der Psychologe hat gesagt, wir sollten sie lieber nicht drängen oder zwingen. So etwas hat er noch nicht erlebt. Er glaubt, dass es vielleicht … der Schock ist. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe das«, erwiderte Aidans Mum.
Die Bestätigung bestärkte Mum. »Er glaubt nicht, dass sie
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