Robert Enke
sichtbar weiter vor dem Tor
als Oliver Kahn, der spektakuläre Retter, aber nicht so weit vorne wie van der Sar, der elfte Feldspieler. Er würde nicht
bei jeder Flanke hinauseilen, wie das Hoek forderte, wie das die nächste Generation der Torhüter auch in Deutschland schon
lernte. Selbst Álvaro spielte bei Flanken von außen mutiger, Álvaro platzierte sich in der Tormitte, drei, vier Meter vor
dem Tor, Robert Enke stand näher zum vorderen Pfosten und zur Torlinie. »Robert, von dort ist der Weg zu weit in den hinteren
Teil des Strafraums; wenn die Flanke dorthin segelt, kommst du nicht ran.« Er wusste, Álvaro hatte recht, aber er hatte sein
konservatives Stellungsspiel seit der Kindheit verinnerlicht, mit ihm fühlte er sich sicher, also würde er es beibehalten
und manche Flanke in den hinteren Teil des Strafraums eben den Verteidigern überlassen. Nur wenn er bei einer Flanke hinauskam,
fing er sie sicher.
|252| Robert Enke war die Mitte zwischen Kahn und van der Sar, zwischen Reaktion und Antizipation, zwischen konservativem Spiel
und Risiko. Der Mittelweg erscheint oft langweilig und ist meistens vernünftig.
Der CD Teneriffa, bei Robert Enkes Debüt auf einem Abstiegsplatz, verlor nicht mehr. »Es gibt viele Fußballer, die eine individuelle
Bedeutung haben, und es gibt einige wenige Fußballer, die eine Bedeutung für das Kollektiv haben«, sagt Lobo Carrasco. »Robert
gehörte in die zweite Kategorie. Vorher waren wir eine Mannschaft
light
, mit ihm bekam die Elf eine andere Mentalität, eine andere innere Überzeugung.«
Es hat nur zwei Grad in Madrid, Carrasco trägt zwischen dem feinen hellblauen Hemd und dem Jackett eine Art Trainingsjacke
aus Polyester, bei ihm sieht selbst das modisch aus. »Einen Moment mal, bitte«, sagt er und holt kommentarlos seinen Laptop
aus der Tasche. Er müsse mir etwas zeigen.
Er schreibe gerade auch ein Buch. Ein Junge zieht in den Profifußball und erzählt, was er erlebt, das soll das Thema sein,
sagt Carrasco, er habe großen Respekt vor dem Schreiben, er lese viel, um besser zu werden – jedenfalls: »Ich habe Robert
in das Buch eingebaut. Denn er zeigte uns, wie ein Fußballer sein soll.« Er fährt mit dem Zeigefinger über den Laptopbildschirm,
es ist nicht mehr ganz klar, spricht er noch frei oder liest er sein Manuskript vor: »Robert, höflich, sensibel in seiner
Ernsthaftigkeit, demonstrierte uns in Teneriffa, dass die Dinge wieder zurechtgerückt werden, wenn ein Mensch gegen ein Versagen,
gegen eine Ungerechtigkeit rebelliert. Und wie er gegen das rebellierte, was man ihm bei Barça angetan hatte.«
Die eigenen Worte bewegen Carrasco. »Wenn er bei Barça, damals nach Novelda, einen Trainer gehabt hätte, der ihm gesagt hätte:
›Moment mal, du wirst weiterhin meine Nummer eins bleiben, ich vertraue dir‹, wäre er in Barcelona dieser Spieler geworden,
den wir auf Teneriffa sahen.« Carrasco, der sich seit drei Jahrzehnten im Fußball auf höchstem Niveau bewegt, verschränkt
die Hände hinter dem Kopf, um klar in die Vergangenheit zu blicken. »Ich habe in meinem Leben keine zehn Torhüter mit Roberts
Potenzial gesehen, er war wie ein Stier. |253| Aber unser Leben wird davon bestimmt, welche Menschen wir zu welchem Zeitpunkt treffen. Wenn ein Torwart auf einen Trainer
trifft, der ihn nach nur einem Fehler eliminiert, dann ist der Schaden schon passiert, das ist psychologisch grauenhaft.«
Carrasco hat keinen Kaffee bestellt, den er umrühren könnte, kein Glas Wasser, an dem er sich festhalten könnte, er verbringt
den Vormittagskaffee ohne Getränk. »Ich muss daran denken, dass er den anderen Torhütern Handschuhe schenkte – welch eine
großartige Geste. Als sage er zu seinen Gegnern: Ich gebe euch die gleichen Waffen.«
Der Bildschirm von Carrascos Laptop leuchtet noch. »Es ist der Donnerstag nach Roberts Tod«, steht dort mitten in seinem Buchmanuskript.
»Seitdem konnte ich nicht mehr schreiben.«
Auf Teneriffa bekam Robert Enke ein neues Gespür für Distanz. Er war nicht nur räumlich weit entfernt von seinem bisherigen
Leben, 2236 Kilometer südlich von Barcelona, es fühlte sich auch sehr weit an. Die Nachrichten in den Sportzeitungen las er
aus demselben Blickwinkel wie der Hafenarbeiter neben ihm im Café. Er war ein Außenstehender geworden. Einmal entdeckte er
zufällig, dass Timo Hildebrand in einem Interview seinen Namen erwähnte. Hildebrand war im Jahr 2004 der
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