Robert Enke
entwickeln. Dies war ihr Kind, sagte sie, es sollte leben,
mit allen Konsequenzen.
Der Entschluss war gefasst, und auf einmal schien alles ganz einfach. Sie wussten sehr wohl, dass das Leben mit einem schwer
kranken Kind schwierig werden würde, aber es waren abstrakte Schwierigkeiten, solange das Kind noch nicht da war. Wenn sie
versuchten, sich ihr Leben zu dritt vorzustellen, spürten sie eine sehr theoretische Zuversicht, dass sie es schon schaffen
würden, irgendwie.
Ein Satz wurde wieder lebendig, er hatte ihn anderthalb Jahre zuvor gesprochen, als ihn Kaiserslautern nicht wollte und Barça
rief. »Bei mir kann offenbar nichts normal laufen.« Damals hatten wir gelacht.
Während er um das Leben seines Kindes bangte, wurde er auf Teneriffa »als Torwart wiedergeboren«, sagt Lobo Carrasco. Der
Club Deportivo Numancia aus der Kleinstadt Soria, benannt |250| nach den Numanciern, die 150 Jahre vor Christi Geburt den Römern erbitterten Widerstand geleistet hatten, kam als Tabellenführer
nach Santa Cruz und fuhr geschlagen nach Hause. Er legte drei Paraden hin, die die Elftausend aufspringen ließen. »Die Leute
waren auf den ersten Blick verliebt«, sagt Carrasco. »Sie erkannten den Torwart, den Barça gekauft hatte, nur noch stärker
nach all dem, was er durchgemacht hatte. Es ergriff die Leute: dass einer wie er für Teneriffa spielte.«
Das Gefühl, glücklich im Tor zu sein, trug Robert Enke. Vielleicht würde er nie mehr bei einem großen Verein wie Benfica oder
Barça spielen, vielleicht würde er in der Zweiten Liga hängen bleiben, aber er wusste auf einmal ganz genau, wie er als Torwart
sein wollte, und wenn er seinem Idealbild eines Torwarts nahekam, dann würde er zufrieden sein, egal, in welcher Liga er spielte.
Er hatte, in der Mitte einer Torwartkarriere, seinen Stil gefunden.
Immer hatte er sich an anderen orientiert, in Mönchengladbach an Uwe Kamps, der auf der Torlinie klebte, der spektakulär sein
wollte, flog und faustete, in Barcelona hatte er sich von Hoek verrückt machen lassen mit seinem
Weiter vor! Dein Fuß! Van der Sar! .
»Das ärgert mich am meisten, dass ich mir von ihm einreden ließ, ich könne gar nichts.« Immer hatte er die Kollegen ganz genau
beobachtet, Kamps, Bossio, Bonano, von jedem konnte er etwas lernen, auch von Álvaro Iglesias, der bislang nur in der Dritten
Liga gespielt hatte, aber ein erstklassiges Stellungsspiel bei Eckbällen und Flanken besaß. Das Ausland bereicherte ihn, Robert
Enke hatte bemerkt, dass er in Deutschland, dem selbst ernannten Land der Torhüter, in den Neunzigern mit einer Torwartlehre
voller Schrullen aufgewachsen war, das Lauern auf der Torlinie, das übertriebene Fausten, das Festhalten am vorderen Pfosten
bei Flanken, das Rausstürmen und spekulative Hinwerfen, wenn der Stürmer alleine kam, das auf Kraftausdauer ausgerichtete
Training. Der neue Torwart wurde eher von der argentinischen Schule beeinflusst, das regungslose Stehen vor dem Stürmer, der
seitliche Abschlag, Argentiniens Nationaltorwart Germán Burgos hatte sogar eine Übung erfunden, um den menschlichen Reflex
zu unterdrücken, bei Schüssen aus |251| nächster Distanz das Gesicht abzuwenden: Der Torwarttrainer fesselte Burgos die Hände auf den Rücken und schoss vehement aus
nächster Nähe, Burgos musste den Ball mit dem Gesicht abwehren, wieder und wieder, die Nase brach mehrmals. Robert Enke lernte
von einem Argentinier, Roberto Bonano, mehr als von allen anderen. Er optimierte sogar seinen feinsten Trick, die Körperhaltung
im Duell mit dem Stürmer, nachdem er Bonano gesehen hatte. Er ging nicht mehr ins Spagat, sondern blieb wie Bonano aufrecht,
eingefroren vor dem Stürmer stehen, nur sein nach innen geknicktes rechtes Knie, sein Markenzeichen, behielt er bei, sodass
der Stürmer ihm nicht durch die Beine schießen konnte. Andere Torhüter konnten, mit dem Knie nach innen, nicht mehr kräftig
abspringen. Robert Enke wurde auf Teneriffa ein König im Duell mit dem Stürmer, von der Leiste abwärts war seine Pose noch
Enke, von den Hüften aufwärts Bonano.
Aber er wollte niemanden mehr imitieren. Zum ersten Mal sah er klar, was für ihn gut war, was unpassend. Und so schraubte
er aus den über Jahren angesammelten Einzelteilen in Teneriffa den Torwart zusammen, der vielen anderen ein Vorbild sein würde.
Er machte sein Wesen, die Sachlichkeit, die Ruhe, zum Kern seines Spiels. Er positionierte sich
Weitere Kostenlose Bücher