Robert Enke
für ihn wäre endlich
frei. Der erwartete Anruf von Andreas Köpke erreichte Timo Hildebrand im Auto.
Er hörte dem Torwarttrainer gut eine Minute zu, er versuchte, etwas zu entgegnen, aber die Wörter fügten sich nicht mehr zu
Sätzen. Hildebrand legte einfach auf.
Eine Viertelstunde brauchte Timo Hildebrand, um sich halbwegs zu sammeln. Er parkte auf dem Trainingsgelände und rief Köpke
noch einmal zurück. »Aber warum, Andy?«, fragte er: »Warum nur?«
|323| Den drei Torhütern, die nominiert wurden, hatte Andreas Köpke bereits am Vorabend Bescheid gegeben. Während das Fußballpublikum
das Aufgebot von Bundestrainer Löw auf den sieben Fernsehkanälen erfuhr und nichts heißer diskutiert wurde als die Torhüterbesetzung,
rief Robert Enke einen Freund an.
»Jacques«, sagte er, »wo bist du denn?«
»Mensch, Robert, Wahnsinn! Wahnsinn! Ich habe es gerade im Radio gehört, ich freue mich unheimlich für dich, unglaublich,
du fährst zur EM!«
»Ja, danke.«
»Das muss gefeiert werden. Da musst du doch ausflippen vor Glück, Robert!«
»Ich weiß es doch schon seit gestern Abend. Hör mal, Jacques, ich wollte eigentlich nur wissen, wo du bist. Dann bringe ich
dir jetzt die Post vorbei.«
Er fuhr einen Umweg auf dem Heimweg vom Vereinstraining, um Jacques am anderen Ende von Hannover die Briefe zu übergeben und
ein bisschen zu plaudern. Danach rief er Timo Hildebrand an.
Ihr Verhältnis war zurückhaltend professionell gewesen. Er hatte Hildebrand in der Nationalelf mehr beobachtet als mit ihm
geredet, doch dabei war ihm etwas aufgefallen: Der Wechsel nach Valencia, der ihn sportlich etwas aus dem Tritt gebracht hatte,
hatte Hildebrand auf andere Art gutgetan. »Mir kommt vor, er ist verständnisvoller, umgänglicher geworden«, sagte Robert Enke.
Dass Hildebrand allein in einer fremden Mannschaft in einem fremden Land Ohnmacht am eigenen Leib erfuhr, habe ihn sensibler
gegenüber anderen werden lassen. Umso wichtiger schien es ihm, Hildebrand nun Verständnis zu zeigen. So schwer ihm auch der
Anruf fiel.
Er wusste eigentlich nicht, was er dem Konkurrenten sagen sollte, dem er den Platz genommen hatte. »Ich weiß auch nicht, ob
es in solch einer Situation überhaupt so etwas wie die richtigen Wörter gibt«, sagte er, als wir später darüber sprachen.
Er redete einfach drauflos. Es tue ihm leid. Er könne gut nachvollziehen, wie sich Timo fühle. In drei Monaten beginne schon
eine neue Saison, es gebe noch viel zu gewinnen im Fußball, |324| auch für Timo. Das Gespräch war kurz. »Aber ich hatte das Gefühl, Timo hat sich über meinen Anruf gefreut.«
Die Europameisterschaft begann als nette Bootsfahrt. Eine Jacht brachte die Nationalmannschaft auf das offene Mittelmeer vor
Mallorca, sie konnten tauchen und schwimmen und für einen Nachmittag noch glauben, sie seien tatsächlich im Regenerationstrainingslager,
wie die Trainer den ersten Teil der Vorbereitung in Palma de Mallorca betitelt hatten.
Robert Enke hatte in seinem Jahr bei der Nationalelf mit den Innenverteidigern Per Mertesacker und Christoph Metzelder schon
seine Clique gefunden. Seinen natürlichen Freunden, den Torhütern, kam er nicht so leicht näher, glaubte er.
»Er redet ja nicht«, bemerkte er achselzuckend über Jens Lehmann.
Lehmann kultivierte die Rolle vom Torwart als einsamem Cowboy, der grimmig und rücksichtslos seinen Weg gehen muss. Wenn er
sich doch einmal öffnete, wurde er gerne belehrend. Eines seiner Lieblingsthemen zu der Zeit war, was alles bei seinem Klub
Arsenal und überhaupt in England besser als anderswo war. Erstaunlich war nur, dass Lehmann in fünf Jahren in London von den
wichtigsten englischen Werten, der Höflichkeit und der Selbstironie, nichts mitbekommen hatte.
Was den anderen Torwart betraf, so hatte Robert Enke Vorbehalte. Der Gedanke, dass es eine Zeit nach der Europameisterschaft,
nach Jens Lehmann gab, ließ sich nicht verdrängen: Dann würden René Adler und er um die Nummer eins kämpfen, das war das Signal
der Nominierung, sie waren die Rivalen von morgen. Doch den Jungen schien das wenig zu kümmern. Überrascht bemerkte Robert
Enke, wie René Adler den Kontakt suchte. Während Lehmann in sein Schweigen gehüllt das Trainingsprogramm durchzog, rief René
Adler nach einer Parade »Super, Robert!«, oder wollte wissen, ob er bei dieser Flanke nicht ein wenig weiter hinten hätte
stehen sollen. Nach ein paar Tagen bot René Adler
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