Robert Enke
unverändert dreißig- bis vierzigtausend Zuschauer kamen, spürte er auf einmal viel mehr
Blicke auf sich lasten. Das Land wollte sehen, ob er wirklich für die Nationalelf taugte. Die Europameisterschaft 2008 rückte
näher, und die Frage nach den richtigen Torhütern wurde zum Volksvergnügen. Konnte Jens Lehmann Deutschlands Nummer eins bleiben,
obwohl er in London beim FC Arsenal seit Wochen auf der Ersatzbank saß? Musste statt Timo Hildebrand und Robert Enke nicht
zumindest einer der talentierten Jungen René Adler oder Manuel Neuer berufen werden? Endlos waren die Internetumfragen, Experteninterviews,
Zeitungskampagnen, der Lobbyismus. »Enke und wie sie alle heißen kann man vergessen«, sagte Bayern Münchens Manager Uli Hoeneß,
eher werde Bayerns Michael Rensing der nächste Nationaltorhüter. Darauf kam außer Hoeneß niemand. Also sagte sich Robert Enke,
das sei viel Lärm um nichts, wichtig sei allein die sachliche Einschätzung der Bundestrainer. »Dass Hoeneß seinen Spieler
puscht, das kann er machen, aber er sollte dabei auch den Anstand bewahren. Den hat er verloren«, antwortete er. Es klang
souverän. Er dachte selbst, er sei darüber hinweg, sich von solchen Scharmützeln verrückt machen zu lassen. Er musste sich
eingestehen, dass er sich geirrt hatte. Kritik wühlte ihn auf.
|316| Hannovers Trainer Dieter Hecking kritisierte ihn ein einziges Mal öffentlich. In einem Testspiel gegen den Grasshopper Club
Zürich war Robert Enke an einem Eckball vorbeigeflogen und bei einem Abstoß ausgerutscht. »Er war nicht so konzentriert, wie
es vonnöten war«, sagte Hecking den Sportreportern. Es war nur ein Testspiel, es war nur ein dahingesagter Satz des Trainers,
es war zwei Tage später vergessen. Nur Robert Enke redete noch drei Wochen später davon, seine Hand verkrampfte sich vor Zorn
am Lenkrad. Wie kam Hecking darauf, dass er unkonzentriert gewesen war, wie kam er dazu, ihn öffentlich anzuprangern?
Im April 2008, noch zwei Monate bis zur Europameisterschaft, gewann Hannover 2:1 gegen Eintracht Frankfurt. Robert Enke sah
sich zu Hause im Wohnzimmer die Zusammenfassung in der Sportschau an, er blieb sitzen, als sie Leverkusen gegen Stuttgart
zeigten. Die Kamera lief genüsslich langsam, als Stuttgarts Torwart Sven Ulreich eine Flanke aus dem Strafraum faustete und
Leverkusens Simon Rolfes den Ball aus dem Hinterhalt ins Tor schoss. Minuten später konnte Ulreich einen Fernschuss nicht
festhalten, Leverkusens Stefan Kießling nutzte den Abpraller zum 2:0. Am Ende des Beitrags kam Stuttgarts Trainer Armin Veh
ins Bild. »Fußball ist manchmal ganz einfach. Wir haben durch zwei Torwartfehler verloren. Das haben alle gesehen. Da bringt
es nichts, den Torwart zu schützen«, sagte der Trainer. Robert Enke wurde vor dem Fernseher wütend. Wie konnte das ein Trainer
über seinen Torwart sagen! Zumal das erste Tor kein Fehler, sondern eine ordentliche Faustabwehr von Ulreich gewesen war,
die unglücklich beim Gegner landete. Dass die Fernsehreporter so etwas nicht erkannten, war er schon gewohnt, aber ein Trainer!
Robert Enke schrie den Fernseher an: »Das gibt es doch gar nicht!«
Sven Ulreich fuhr am Tag darauf zu seiner Mutter. Er war 19 und wohnte noch zu Hause. Er hatte erst zehnmal in der Bundesliga
gespielt und fragte sich niedergeschlagen, ob es das schon war, ob er seine Chance verspielt hatte. Als sein Handy klingelte,
sah er auf die Nummer des Anrufers. Er kannte sie nicht. Einen Moment überlegte er und nahm dann doch ab.
|317| »Als ich die Stimme hörte, bin ich erschrocken«, sagt Sven Ulreich. Robert Enke war dran.
Er kannte Ulreich nicht wirklich. Sie hatten zwei Wochen zuvor, nach dem Spiel Hannover gegen Stuttgart, drei Minuten miteinander
gesprochen, die Handynummer hatte er sich von seinem Handschuhhersteller geben lassen. Robert Enke glaubte, er kenne die Situation,
in der sich Ulreich befand.
Sie redeten über eine halbe Stunde. Enke analysierte Ulreichs Gegentore. Was wichtig sei, sagte ihm Robert, waren die Entscheidungen:
den ersten Ball zu fausten, sehr gut, und beim zweiten Tor ging Ulreich eigentlich auch richtig runter, der Rest war Pech.
Er dürfe nicht verzweifeln, selbst wenn ihn der Trainer nun aus dem Team nehmen sollte, diese öffentliche Kritik von Veh war
wirklich das Letzte, aber ihm sei es in Barcelona einmal ganz genauso gegangen, ein blödes Spiel, und er war weg vom Fenster
gewesen. Er sei durch
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