Robert Enke
ein ganz tiefes Tal gegangen und – das vor allem wolle er ihm sagen – wieder herausgekommen. Er werde
das auch schaffen. Er habe wirklich enormes Talent. »Als ich auflegte«, sagt Sven Ulreich, »hatte ich Gänsehaut.«
Er wandte sich seiner Mutter zu. »Das war Robert Enke.« Die Mutter wartete auf eine Erklärung, und Sven Ulreich hatte eigentlich
keine: »So etwas hat es im Fußball vermutlich noch nie gegeben: dass ein Nationaltorhüter spontan einen unbekannten 19-Jährigen
anruft, um ihm zu helfen.«
Nachmittags in Empede führte sein Weg unverändert zum Friedhof, mit Teresa und den Hunden den Langen Berg hinauf, durch die
Felder zu Lara. Wenn sie mit dem Rudel vom Grab an der Landstraße zurück ins Dorf gingen, sah er in letzter Zeit etwas Neues.
Er konnte sich vorstellen, mit einem Kind am Grab zu stehen und selbstverständlich zu ihm zu sagen: Das war deine Schwester.
Ein zweites Kind wäre kein Versuch, Lara zu ersetzen. Es wäre einfach ihr zweites Kind. Er sah keinen Grund mehr, warum sie
ein zweites Kind nicht genauso lieben konnten wie alle anderen Eltern ihre Kinder.
|318| Was sich Teresa nicht mehr vorstellen konnte, war eine Schwangerschaft. Das Risiko, die Angst, noch einmal ein krankes Kind
zu bekommen, würde sie nicht aushalten.
Sie kannten in Hannover ein Ehepaar, das adoptiert hatte. Sie hatten sich über das Prozedere informiert, die Überprüfung durch
das Jugendamt, Wartefristen. Und wenn sie es nach dem Sommer angingen?
Der Sommer lag wie ein großer Steinblock vor ihrer Zukunft. Die Frage, ob er für die Europameisterschaft im Juni nominiert
wurde, blockierte erst einmal alles. Jörg oder Teresa redeten sich in Rage, wenn die Sportreporter in unverhohlener Zuneigung
die Nominierung des jungen René Adler forderten, weil der ein netter Überflieger mit sensationellen Paraden war. Robert Enke
tat es gut, wenn sich Jörg oder Teresa aufregten. Wenn sie aufbrausten, sah er sich gezwungen, ruhig zu bleiben. Er musste
sie dann besänftigen: Keine Panik, der Bundestorwarttrainer schätze ihn, außerdem fuhren drei Torhüter zur Europameisterschaft,
und nach der Leistung der letzten Jahre, nicht nur des Moments, fühle er sich ehrlich gesagt als zweitbester. Wenn er so ruhig
vor ihnen argumentierte, hatte er am Ende meist auch sich selbst überzeugt.
Anderthalb Jahre nach Laras Tod waren es wieder die normalen Ängste, die gewöhnlichen Zweifel eines Torwarts, die ihn umtrieben.
»Es kommt alles wieder«, sagt Teresa. »Die Wut über ein Gegentor, der Ärger, weil es die Jeans in Größe 36 nicht gibt, all
die alltäglichen Oberflächlichkeiten. Es geht nur nicht mehr so tief.«
Sie waren wieder einmal zwei Tage nach Hamburg gefahren, um ein normales, glückliches Paar mit all den üblichen oberflächlichen
Sorgen zu sein. In einer Boutique wollte Teresa eine Jeans kaufen. Während sie in der Garderobe in eine Hose schlüpfte, begann
er im
Kicker
zu blättern.
»Wie gefällt dir die?«
»Ja, gut.« Er sah kaum vom
Kicker
auf.
Teresa probierte fünf verschiedene Modelle an. Jedes Mal kam sie aus der Umkleidekabine, damit er sein Urteil abgab. Jedes
Mal sagte er, den halben Blick noch auf der Fußballzeitschrift, |319| »ja, gut«. Da reichte es ihr. Noch einmal ging sie in die Garderobe und zog eine Jeans an.
»Oder soll ich die nehmen?«
»Ja, die ist auch gut.«
»Robbi, schaust du vielleicht auch mal hin!«
Sie hatte ihre eigene Jeans angezogen.
|320| SIEBZEHN
Im Land der Torhüter
Joachim Löw kam zur Königsallee, um nichts zu sehen und nicht gesehen zu werden. Dort, wo andere die neueste Mode bewundern
und sich selbst inszenieren, suchte der Bundestrainer die Abgeschiedenheit. Für drei Tage bezog er am 5. Mai 2008 eine Hotelsuite
an dem Düsseldorfer Boulevard. Er wollte mit seinen engsten Mitarbeitern ungestört über das Aufgebot für die Europameisterschaft
beraten. Die Torhüterbesetzung war nicht das dringendste, aber das sensibelste Thema. Es gab drei Plätze. Und vier Kandidaten.
Jens Lehmann musste die Nummer eins sein. Das hatte Löw bereits vor Monaten entschieden, als er Lehmann im Tor ließ, obwohl
er in seinem Klub, dem FC Arsenal, als Ersatztorwart keine Spielpraxis mehr sammelte. Die Erinnerung, was Lehmann bei der
Weltmeisterschaft 2006 geleistet hatte, wog schwerer als die Vermutung, was die anderen drei vielleicht leisten könnten.
Es blieben Timo Hildebrand, Robert Enke und René Adler.
Weitere Kostenlose Bücher