Rocking Horse Road (German Edition)
Vater unterrichtete Geschichte und trainierte außerdem die erste Mannschaft. Er hatte auf regionaler Ebene Rugby gespielt und sich einen Ruf als Vollstrecker erworben. Er war ein großer, schwerer Mann, der durch seinen roten Bart und seine bellende Stimme noch beeindruckender wirkte. In den Wintermonaten konnte man Dienstag und Donnerstag nach der Schule Mr. Templeton oft aus voller Kehle schreien hören. Er brüllte seine Spieler beim Training an: Klappmesser und Sit-ups, Passen und Kicken, das Taktieren beim Paket und das Schieben beim Gedränge. In diesen Motivationskursen fiel immer wieder der Name Jim Turner. Mr. Templeton war belauscht worden, wie er an der Seitenlinie Mr. Turner erklärte, daß seinem Sohn der »Killerinstinkt« fehlte, der ihn zu höheren Rugby-Weihen befähigen würde. Er fügte hinzu, daß bald mal jemand Jim Feuer unterm Arsch machen sollte.
Doch es war Al Penny, der das größte Rugby-Wissen hatte. Er trichterte uns sämtliche Statistiken über die Springboks ein: Er wußte die Resultate aller Test Matches der letzten zwanzig Jahre auswendig. Die Namen der großen Spieler gingen ihm flüssig über die Lippen, und er kannte selbst die obskursten Regeln. Darin lag eine gewisse Ironie, denn auf dem Platz war Al so gut wie nutzlos. Er spielte für die B-Mannschaft der U16 unserer Schule, aber selbst dort saß er oft nur auf der Ersatzbank. Wenn er aufs Feld kam, dann rannte er auf dem linken Flügel herum, ohne Sinn und Verstand. Manchmal war ihm nicht klar, wohin der Ball flog, und manchmal wußte er nicht einmal, in welche Richtung das Spiel lief. Man hatte den Eindruck, Al sei beim Joggen zufällig in ein Rugbymatch geraten. Wenn der Ball aus Versehen zu ihm gepaßt wurde, wurden Als Finger zu Butter. Doch als unsere Zeitungsausschnitte über Lucy sich aufzurollen und zu vergilben begannen, sammelte Al sämtliche Informationen über die bevorstehende Springbok-Tour, deren er habhaft werden konnte.
Der zweite Überfall ereignete sich am hellichten Tag und an einem Wochentag – um genau zu sein, um 15:45 Uhr am Montag, dem 27. Februar. Tracy Templeton, Matts kleine Schwester, die jüngste der sieben Kinder unseres Geschichtslehrers, befand sich mit ihrer besten Freundin Jenny Jones auf dem Heimweg von der Schule. Sie waren beide elf Jahre alt und besuchten die 7. Klasse der South Brighton Primary, die nur bis zum 8. Schuljahr ging. (90% der Kinder wechselten dann auf die New Brighton High. Tatsächlich waren es nur die Katholiken, die für ihre Highschool-Jahre nach Christchurch mußten.) Schon am ersten Schultag 1981 saßen Tracy und Jenny nebeneinander in einer der letzten Bänke von Mrs. Shepherds Klasse. Schon bald nannten sie sich JJ und TT.
Zu dieser Zeit gab es noch keine Schlangen chauffierender Mütter vor den Schultoren um 15 Uhr; statt dessen waren alle Straßen um jede Schule der Stadt voller Kinder, die nach Hause gingen. Sie besetzten den gesamten Fußweg, ein unentwirrbares Gedrängel von Schuluniformen. Später bogen sie zu zweit oder zu dritt in Seitenstraßen ab. Manchmal dünnten die Gruppen so sehr aus, daß Kinder allein nach Hause gingen. Niemand verschwendete einen Gedanken daran.
Der Bridge Street Park ist ein offenes Gelände von der Größe eines Rugbyfelds, mit einem Kinderspielplatz abseits der Straße: eine Rutsche, eine Wippe und ein fünfsitziges Metallpferd, das vor- und zurückschwingt. Auch das Stadtteilzentrum und der Bowling Club befinden sich dort, aber auf der anderen Seite. Es gibt Büsche und eine Gruppe von Kohlbäumen, die ihre langen Blätter abwerfen; die müssen die Stadtgärtner erst aufsammeln, bevor sie mähen können. Auf der Seite zur Lagune hin steht eine Kieferngruppe; geht man durch sie hindurch, gelangt man zum Wasser, oder zum Schlick, wenn gerade Ebbe ist.
Tracy Templeton erzählte der Polizei, sie und JJ waren nicht im Park, sondern gingen die angrenzende Straße entlang, als sie ein Geräusch hörte, hochsah und einen Mann mit schmutzigem Hut erblickte, der auf sie zusprang. Bevor Tracy wußte, was geschah, hatte er schon ihre Freundin gepackt. Ob der Mann es auf Jenny Jones abgesehen hatte oder sich einfach das ihm nähere Mädchen griff, läßt sich nicht sagen. Sicher war Jenny die kleinere und von Natur aus schüchternere. Einem auf der Lauer liegenden Sexualverbrecher mochte Jenny Jones als die leichtere Beute erschienen sein.
Tracy berichtete, daß der Mann Jenny zuerst am Arm packte, aber seinen Griff gleich änderte
Weitere Kostenlose Bücher