Rocking Horse Road (German Edition)
Oberhand.
Wir saßen in unseren grauen Hemden zusammengesunken an den Tischen und konnten uns auf nichts konzentrieren. Die Zeitungen meldeten in immer kleineren Artikeln, daß die Polizei »mehreren Spuren folgte«, um die Identität des Weihnachtsmörders zu ermitteln. Wir spürten die wachsende Teilnahmslosigkeit der Journalisten. Die Anzahl der Beamten, die an dem Fall arbeiteten, war deutlich reduziert worden. Es war sonnenklar, daß sie nicht wirklich vorwärtsgekommen waren. Unsere eigenen Befragungen und endlosen Gespräche hatten sich immer um dieselben Dinge gedreht und uns nirgendwohin geführt. Dieser völlige Stillstand wirkte abstumpfend.
Vom Fenster unseres Klassenzimmers aus konnten wir ein paar verstreute Kiefern sehen, die in den Dünen wuchsen. Der ständige Ostwind ließ die Bäume niedrig und in eine Richtung gekrümmt wachsen, wie wir es von den afrikanischen Bäumen kannten, die wir in der Fernsehsendung Our World gesehen hatten. Wenn wir die Augen zukniffen, konnten wir uns vorstellen, daß es Giraffen waren, die ihre Hälse vor dem blauen Himmel leicht vor und zurück bewegten. Oder der geringelte Schwanz eines Leoparden, der auf den unteren Zweigen saß.
Zum ersten Mal kam uns der Gedanke, daß der Mord an Lucy vielleicht nie aufgeklärt werden würde, daß unser ganzer Sommer vertan war. Im Laden der Ashers gab es nichts Neues zu sehen, und unsere Ersparnisse waren allmählich erschöpft. Mit dem Beginn des neuen Schuljahrs schien Lucys Ermordung in eine andere Epoche zurückzutreten. Unsere Lehrer versuchten uns davon zu überzeugen, wie wichtig die zwölfte Klasse war, doch konnten wir, während unaufhörlich die Sprühtropfen von Lavendel- oder Rosenduft auf uns herabsanken, keine Begeisterung dafür aufbringen.
Das einzige, was uns damals wirklich bewegte, war die bevorstehende Rugby-Tour. Es galt nun als fast sicher, daß die Südafrikaner kommen würden. Die Springboks! Zum ersten Mal seit sechzehn Jahren würden die größten Rivalen der All Blacks in Neuseeland spielen, und wir waren überglücklich.
Die Hälfte jedes Jahres sprach die Familie beim Essen über kaum etwas anderes als Rugby, sahen wir zusammen Rugby im Fernsehen, war Rugby die Würze unseres Lebens. Wenn die All Blacks im Ausland spielten, standen wir mitten in der Nacht auf, um die Spiele zu sehen. Noch im Schlafanzug und in Decken gewickelt, saßen wir mit unseren Brüdern und Vätern eng zusammengedrängt auf der Couch, und lautstark feuerten wir unsere Jungs von der dunklen Seite der Welt heran.
Obwohl die Springboks erst im Juli eintreffen sollten, gab es für Zeitungen und Radio kaum ein anderes Thema als die Tour. Das meiste davon war politisches Zeug und interessierte uns nicht die Bohne, doch unsere Väter sahen sich das im Fernsehen an und murmelten dabei Wörter wie »Stänkerer« und »Kommunistenpack« vor sich hin. Wir wußten nur, daß die Boks das einzige Team der Welt waren, gegen das die All Blacks öfter verloren als gewonnen hatten. Es hatte 34 Test Matches zwischen den beiden Ländern gegeben, und wir hatten nur 13 davon gewonnen. Die Boks hatten die beiden letzten Länderspielserien 1970 und 1976 – drei zu eins gewonnen. Und jetzt kamen sie wieder. Nun hatten wir die Chance, den Spieß umzudrehen.
Es war noch immer heiß, und wir suchten Trost in Diskussionen über unsere Winterreligion. Endlos gingen wir alle möglichen Mannschaftsaufstellungen durch. Wer würde wohl in dieser Saison in die All Blacks berufen? Wer würde für die Boks auflaufen? Wir machten uns Gedanken über die Austragungsorte. Ganz bestimmt würde ein Test Match in Lancaster Park, dem Stadion von Christchurch, stattfinden, und wir waren zuversichtlich, daß die meisten von uns hingehen würden. Beim Abendessen erzählten unsere Väter von den großen Aufeinandertreffen der beiden Mannschaften. Wir hingen an ihren Lippen, wenn sie über die Helden von 1956 sprachen. Nicht viele von uns waren es gewohnt, ihre Väter so lange und so engagiert reden zu hören.
Wir alle spielten Rugby, mit unterschiedlicher Begabung und unterschiedlichem Erfolg. Jim Turner war der beste von uns, mehr wegen seiner Körpergröße als irgend etwas anderem. Mit sechzehn war er schon 1,85 Meter groß und wog 85 Kilo. Er stand seit seinem zehnten Lebensjahr jede Saison als Zweite-Reihe-Stürmer in verschiedenen Regionalauswahlen. Und er war der einzige, der je als Zehntkläßler in der ersten Schulmannschaft gespielt hatte.
Matt Templetons
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