Rocking Horse Road (German Edition)
und versuchen uns in Lucy hineinzuversetzen. Wenn wir die Augen zukneifen, können wir die neuen Reihenhäuser und Autos ausblenden. Es könnte leicht wieder 1980 sein, eine Sommernacht fünf Tage vor Weihnachten. Woran dachte Lucy, als sie an dieser Stelle stand? War sie vielleicht entgegen all unseren komplizierten Überlegungen einfach nur am Strand spazierengegangen, um ihren Kopf auszulüften nach Tonys aufgepepptem Punsch, und dabei an ihrem Haus vorbeigelaufen? Unwahrscheinlich: Sie war auf The Spit aufgewachsen und kannte sich am Strand zu gut aus. Oder hoffte Lucy vielleicht, daß sie durch diesen halben Kilometer mehr das Gefühl von Antons gierigen Händen auf ihrer Haut loswerden würde? Aber warum ist sie dann auf dem Fußweg nach Süden gegangen und nicht nach Norden, an Karen und Phil vorbei?
Wir gehen alle Routen ab, die sie genommen haben mag, angefangen vom Surfclub bis zu dem Weg aus den Dünen. Sie würde das Auto von Karen und Phil ungefähr von hier aus gesehen haben. Wußte sie, daß die beiden drinsaßen? Wahrscheinlich. Sie war nur fünf Meter entfernt, und »gute Nacht sagen« kann ziemlich überschwenglich ausfallen. Es kann gut sein, daß sie sie zuerst sah, bevor sie selbst von ihnen gesehen wurde. Und Karen meinte, Lucy habe geweint. Wenn das stimmt, warum hat Lucy in dieser Nacht geweint? Während wir auf der Rocking Horse Road stehen, flattern ungelöste Fragen wie Motten um das Licht der Laternen über uns.
Sie drehte sich also um und ging den Fußweg entlang. Die Straßenlaternen stehen in großen Abständen. Für Karen und Phil wie für jeden anderen, der sie aus der Entfernung beobachtete, wäre sie im Dunkeln verschwunden und dann im nächsten Lichtkegel wieder aufgetaucht. Wir wissen nicht, ob sie den ganzen Weg bis zum Naturschutzgebiet gegangen ist; sind nicht sicher, ob sie es bis dahin geschafft hat. Es kann sein, daß sie in eines der Häuser ging. Wurde sie vielleicht verfolgt und dann angegriffen von einem Fremden, der, wie Al Penny mutmaßt, einfach die Gunst der Stunde nutzte? Oder war Lucy auf dem Weg zu einem Treffen mit demjenigen, der sie dann umbrachte? Das ist die andere Möglichkeit für unsere Gedankenspiele.
Am Ende unserer Nachtwanderungen sind wir der Beantwortung unserer Fragen keinen Deut näher gekommen. Wir gehen nach Hause und schlüpfen ins Bett, manchmal allein, manchmal zu einer leidgeprüften Frau oder Freundin. Am nächsten Tag untersucht sie vielleicht unsere Kleider auf den Geruch einer anderen Frau hin, und am Ende des Monats schaut sie unsere Kreditkartenabrechnung nach verdächtigen Käufen durch. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen. Wir haben längst gelernt, es nicht persönlich zu nehmen.
Bis Ende Januar 1981 war Mr. Asher noch dreimal nachts in oder bei den Dünen gesehen worden.
Eines Tages hörte Mark Murray seine Mutter in der Küche telefonieren. Sie sprach mit Mrs. Webb, Grants Mutter. Marks Mutter arbeitete nachts in der Konservenfabrik Wattie’s, wo sie die Endkontrolle der Gemüsekonserven machte. Mrs. Murray hatte ihre Schicht um vier Uhr früh beendet und fuhr nach Hause. Vermutlich war sie müde. Sie war gewiß überrascht, sogar erschrocken, als Mr. Asher plötzlich im Licht ihrer Scheinwerfer auftauchte.
»Kein Zweifel, er war es«, erzählte sie Mrs. Webb am Telefon.
»Lief einfach so über die Straße, mitten in der Nacht. Ich bin zu Tode erschrocken, das kannst du mir glauben. Man fragt sich, ob er noch alle Tassen im Schrank hat.«
Sie schaute zu Mark, ob er wohl lauschte. Mark tat so, als läse er die Zeitung, die sein Vater mit aufgeschlagenem Sportteil auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte. Dennoch senkte seine Mutter die Stimme zu einem Flüstern, und Mark mußte sich anstrengen, sie zu verstehen.
»Und das Gruselige daran ist, ich könnte schwören, er hatte ein Baby im Arm«, fuhr sie fort. Dann lachte sie laut, als wolle sie den Gedanken abschütteln. »Ich habe wohl auf zu viele Dosen Rote Bete geschaut.«
Wir wußten, daß Mr. Asher trotz seiner nächtlichen Wanderungen das Milchgeschäft jeden Morgen verließ, sechs Tage die Woche. Tug berichtete, daß er gegen neun seinen ramponierten Pickup aus der Einfahrt fuhr und mit klapperndem Werkzeugkasten auf der Ladefläche davonbrauste. Wir hatten nicht die geringste Ahnung, wo er und was er wohl arbeiten mochte. Der Pickup trug ihn über unsere Grenzen hinaus, den Kanal im Süden und den Thompson Park oben in North Beach. Dazwischen lag unser
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